Paranoia TV, Videostill © steirischerherbst
Paranoia TV, Videostill © steirischerherbst

(De)globalisierte Herbstfestivals

Covid-19 gebiert neue Veranstaltungsideen. Streaming und der Griff zum Kopfhörer als Klangwahrnehmungstool sind fast schon obligat und neue Räume werden nicht nur damit erschlossen. Eine Rundschau feat. steirischer herbst, open music und musikprotokoll in Graz sowie Salam Orient in Wien.

Dass die auf Profitmaximierung ausgerichtete Finanzwirtschaft stets wachsen muss, ist ein Irrglaube und funktioniert nur über die Ausbeutung vorhandener Ressourcen, seien es Natur, Tiere oder Menschen, wobei ein Großteil der Weltbevölkerung nichts bis ganz wenig besitzt und daher auch nicht Verzicht üben muss. Covid-19 ist der Vorbote des Welt-an-die-Wand-Fahrens und verändert das bisherige kulturelle Geschehen. Große und kleine Festivals reagieren verschieden darauf, eher radikal etwa der steirische herbst 2020, der vorwiegend im Netz stattfindet. Sicher ganz im Sinne des Medientheoretikers Peter Weibel, der sich offensichtlich über das kommende Ideenspreading freute. Streaming sei das neue Ding, doch hält ein weiteres Grazer Urgestein dagegen.

Live-Musik = gesellschaftsrelevant
Ute Pinter, Kuratorin der Anfang der 1990er-Jahre begründeten Avantgarde-Konzertreihe open music, beharrt bei der Vermittlung zeitgenössischer Musik auf dem Live-Ereignis: »Die Rückführung auf das Prinzip ›ja-nein‹, auf ›entweder-oder‹ beraubt uns in vielerlei Hinsicht des Spielraums, der individuellen Feinabstimmung und Differenzierungsmöglichkeit; und so bleibt auch ein Konzert-Stream letztendlich ein eindimensionales Nichterlebnis eines vielschichtigen Ereignisses. Das gemeinschaftliche Erleben und der Austausch darüber, die gegenseitige ›Ansprache‹ und ›Aufnahme‹, die ›hautnahe‹ Erfahrung, nicht zuletzt auch die Unwiederbringlichkeit des ›Augenblicks‹, die Gegenwärtigkeit (und damit verbunden auch die Erfahrbarkeit der eigenen Lebendigkeit, des Seins) sind überlebensnotwendige Qualitäten. Für das Individuum wie auch eine Gesellschaft schlechthin.«

Exemplarisch seien nur zwei Live-Gigs hervorgehoben. Die funkigen Jazzer Sketches on Duality (30. Oktober, Forum Stadtpark) oder Peter Kutin in Focus (23. Oktober, Forum Stadtpark). Kutin ist übrigens auch beim diesjährigen Grazer musikprotokoll zu Gast, mit Mathias Lenz und Patrik Lechner. ROTOЯ, mit an vier Rotorenden kreisenden Lautsprechern und LED-Anzeigen, gerät dank Videoprojektionen, die auf die Bewegung des Objektes abgestimmt sind, zu einem hologrammartigen »sonic body«.

ROTOЯ © ORF musikprotokoll

Hidden Sounds beim musikprotokoll
Verborgene Klänge, meist nur technisch messbar oder mit dem Hörsinn nur rudimentär erfahrbar, sind das Leitthema des musikprotokoll 2020, das noch bis 11. Oktober läuft. Co-Kurator Fränk Zimmer entwickelte mit den Sound Artists Natasha Barrett, Andrea Sodomka, Marco Donnarumma, Svetlana Maraš, kӣr, Ulf Langheinrich und Cam Deas »tingles & clicks«. Bei dieser Auseinandersetzung mit dem Phänomen Social Distancing reagieren die jeweiligen Klangobjekte auf die Bewegungen des Users. Ein Tool trackt eine Person, die durch Kopfneigen und Einnehmen anderer Kopfpositionen den Sound selbst virtuell miterschaffen kann, was klarerweisen nur mit Kopfhörer bestens funktionieren kann. »tingles & clicks« kann leider nur beschränkte Teilnehmerzahlen offerieren, wie auch die »Electrical Walks« von Christina Kubisch. Bis 11. Oktober werden verborgene Frequenzen und Wellen wahrnehmbar gemacht, bei Stadtspaziergängen durch das elektromagnetisch pulsierende Graz, reichend von Hidden Sounds in Tiefgaragen bis zu Antennen auf Hochhäusern. Fantastisches verspricht auch »Denoising« von Richard Eigner. Mit Algorithmen am Computer filtert er im MUWA-Museum der Wahrnehmung Lärm mit sogenannten Denoisern heraus, etwa die Geräusche eines kanadischen Güterzugs, der dann auch entschleunigt klingt!

An normalen Konzert-Highlights ist das musikprotokoll indes auch nicht arm. So wird Electric Indigo die tolle Surround-Anlage im Dom im Berg testen, Elektro Guzzi mit Ingrid Schmoliner kollaborieren oder Dorian Concept mit dem Klangforum Wien seine vierzigminütige »Hyperopia« uraufführen. Zum Auftakt am 10. Oktober in der Helmut List Halle wird Solidarität mit der Black-Lives-Matter-Bewegung bekundet. Klangforum-Wien-Trompeter Marco Blaauw spielt das Solo »I can’t breathe« von Georg Friedrich Haas. Ein beklemmendes Werk des politischen Komponisten, das dem 2014 von US-Polizisten ermordeten Afroamerikaner Eric Garner gewidmet ist. Dank des musikprotokoll dynamic streaming kann man übrigens auch Konzerte nachhören und eigenständig den Klang verändern. Außerdem werden sie zeitversetzt in der Sendung »Zeit-Ton« im Radio Ö1 übertragen. Man kann also Verzicht üben, muss nicht vor Ort sein, und hat Gelegenheit, bei Interesse einiges nachholen.

Salah Ammo Wiener Diwan © Salam Orient

Think global, act local: Salam Orient 2020
Salam Orient widmet sich Musik und Kultur aus Ländern mit islamischer Religion. Waren Absagegründe in Vorjahren meist auf nicht rechtzeitige Erledigung von Passformalitäten zurückzuführen, so ist es 2020 das Coronavirus. Heuer können die in London lebenden 47Soul, die modernen Shamstep mit palästinensischen Roots spielen, nicht anreisen, ebenso wie Amir Nash aus Teheran, der mit Mona Matbou Riahi das Duo Naqsh bildet. Eröffnen wird das Festival am 9. Oktober trotzdem ein internationaler Act. Die afghanische Sängerin Hazara Elaha Soroor wird mit den Briten Kefaya im Loreley-Saal in Wien Penzing afghanische Volksmusik und indische klassische Musik mit Jazz und Dub vermengen. Ein Mund-Nasen-Schutz ist am 13. Oktober im Porgy & Bess nicht nötig. Dort werden Salah Ammo im Duo, Quartett und Wiener Diwan mit magischen kurdischen Klängen präsent sein: »The Kurd Has Nothing But The Wind«. Großartig auch Kurdophone (12. Oktober, Porgy & Bess) und Damir Imamović. Der König der bosnischen Sevdah-Musik lässt Salam Orient am 19. Oktober im Theater Akzent ausklingen, mit Quartett und auch in einem Duo mit Jelena Poprzan! 

Gemäß Leopold Kohr, dem österreichischen Vordenker der Umweltbewegung, handelt Salam Orient mehr lokal als global, das Festival setzt auf Lesezirkel sowie Schreibwerkstatt und erweitert sich Richtung Bildende Kunst, mit einem Miniaturmalerei-Workshop, den die pakistanisch-kanadische Künstlerin Tazeen Qayyum im Weltmuseum leiten wird. Salam Orient bringt postkoloniale, weltumspannende Kunst und Kultur zwischen Ost und West und verweist im Programmheft auf die Symbolik der historischen Seidenstraße: »Die sogenannte Seidenstraße, ein dichtes Netz aus Handelswegen, ermöglichte, dass Waren, Menschen, Glaubensvorstellungen, Ideen, Sprachen und auch Krankheiten von Ost nach West und von West nach Ost, von der Pazifikküste Chinas und Russlands bis an die Atlantikküste Europas und Afrikas gelangen konnten. In gewisser Weise ist die globalisierte Welt – in Zeiten eines schrankenlosen Warenverkehrs ebenso wie in Zeiten einer globalen Pandemie – die Fortsetzung dieses antiken Handelsnetzes. Der Geist des Handels besteht im fairen Tauschen, nicht im kolonialen Rauben.«

Links:
https://www.paranoia-tv.com/
http://www.openmusic.at/
https://musikprotokoll.orf.at/
https://www.salam-orient.at/

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