© Verlag wirklich
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Avantgarde war gestern … was bleibt ist Arrière-goût #1

Der Arrière-goût ist der Nachgeschmack der literarischen Revolte, mit dem Verlage heute umzugehen einen Weg gefunden haben. Wir diskutieren mit ihnen diesen Umgang in loser Folge. Den Beginn macht der Verlag bzw. Postulag wirklich.

Allzu gerne wird immer noch das Bild der einsamen und genialen Schreibenden gezeichnet, die uns mit ihren Ideen und Geschichten den Weg weisen. Kaum etwas ist öder, wenig abgeschmackter. Tatsächlich gibt es viele interessante Kooperationen und Initiativen von Schriftsteller*innen und Literaturarbeiter*innen, die eine aktuelle Praxis der Literatur und des Schreibens entwickeln. Sie sind der Nachgeschmack unserer Zeit. In dieser Serie werden unter diesem Gesichtspunkt in unregelmäßigen Abständen Kleinverlage und Literaturprojekte zu einem kurzen Interview gebeten.

Wer Freiheit und Gleichheit will, muss zuerst für die Wirklichkeit einstehen. In Wien gibt es einen neuen Kleinverlag, der sich zur Aufgabe macht, andere Wirklichkeiten wirklich werden zu lassen. Daher auch der naheliegende Name des Verlags: wirklich. Veröffentlicht werden Schriften zur Wirklichkeitsrekonstruktion. Bis jetzt sind drei Bücher erschienen. Jule Bombon von wirklich folgte skug zur Gesprächseinladung.

skug: Wie kam es zur Gründung von wirklich?

Jule Bombon: Die Wirklichkeit hat sich doch selbst gegründet, wir sind alle nur beigetreten. Wirklich!

Was ist dein/euer Anliegen?

Über Fakten und wie sie zusammenhängen, sprich über den genauen Farbton der Wirklichkeit, lässt es sich vortrefflich streiten. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, der Nahkampf um die genaue Schattierung von Rot und Schwarz wird umso unerbittlicher, je näher sich die Standpunkte sind. Dabei gelten die größten Angriffe auf anarchistische und linke Theorie und Praxis nicht dem Inhalt der Wirklichkeit, sondern der Wirklichkeit selbst. Während wir über Schattierungen streiten, die je nach dem Licht, in dem sie betrachtet werden, variieren, zersetzen die postfaktischen Strömungen Faschismus und Kapitalismus das Schlauchboot, in dem wir sitzen: die Wirklichkeit selbst beziehungsweise die Vorstellung, dass diese intersubjektiv ist. Dass Faschismus nicht innerhalb einer konsistenten Wirklichkeit argumentiert werden kann, dürfte klar sein (weshalb sich die intellektuelle Rechte auf die Wirklichkeitsdekonstruktionen von Nietzsche und Heidegger bezieht und die dumme auf Fake News). Die Priester des Kapitalgotts wiederum packen die intersubjektive Wirklichkeit an ihrer vermeintlichen Schwachstelle, ihre Lehre heißt Individualismus. Fakten, ja ganze Realitäten ließen sich vom tüchtigen Individuum erschaffen, ganz so, als veränderte seine Tat nicht nur einen Teil der Zukunft, sondern auch Vergangenheit und Gegenwart, eben die ganze Wirklichkeit. Blasen, von innen betrachtet mit verschiedenen Wirklichkeiten gefüllt, werden forciert, bis hin zu virtuellen »Realitäten«. Deshalb haben wir erkannt: Wer Freiheit und Gleichheit will, muss zuallererst für die Wirklichkeit einstehen. Die Feststellung, dass eine solche tatsächlich existiert, dass sie für alle gilt, dass sie nicht gekauft und nicht manipuliert werden kann, ist Grundvoraussetzung. Die Grenzen der Wirklichkeit sind gleichzeitig die Grenzen der Macht von Menschen über andere. Deshalb dreht sich bei wirklich alles um die Wirklichkeit, und zwar nicht um deren strittige Inhalte, sondern um deren Existenz. Sowohl unsere bereits realisierten als auch die geplanten Projekte thematisieren dies, es sind entweder Plädoyers für die Wirklichkeit oder seekrank machende Kostproben schwankender Wirklichkeiten.

Was hat es mit dem anarchistischen oder revolutionären Konjunktivismus auf sich?

Dieses Konzept stammt aus dem Roman »Die Möglichkeit und der Automat« und wird dort der Widerstandskämpferin Marusja Nikiforowa in den Mund gelegt. Es beschreibt ein Leben im Möglichkeitsraum, eine Art zu handeln, gerade so, als seien die Voraussetzungen für die Utopie schon erfüllt. Andererseits ist Revolutionskonjunktivismus auch eine mögliche Haltung von Revolutionären im Umgang mit der zeitweiligen völligen Abwesenheit jeder revolutionären Perspektive. Statt in diesen Fällen die Utopie pragmatisch gemäß der angeblichen Unmöglichkeit zurechtzustutzen, soll besser in der Möglichkeitsform gedacht und die Utopie konserviert werden. Das verhindert den »Mord am Werdenden«, sprich, eine Abwärtsspirale, die darin liegt, den Status quo als Referenz für die Zielsetzung zu verwenden, wobei nach nur teilweisem Erreichen der Ziele immer ein neuer, abgespeckter Status quo entsteht, welcher dann wieder als Grundlage für die Willensbildung dient. Wie man sieht, schrumpft die Utopie von Runde zu Runde. Das Gegenteil dieses Circulus vitiosus, die Orientierung an der Utopie, ist der Konjunktivismus.

Im Sommer hattet ihr mehrere Veranstaltungen zum Revolutionskonjunktivismus im Perinetkeller. Es gab aber auch eine Zusammenarbeit mit Robert Sommer und seinem aktuellen Buch »Ich komm aus der Herzgegend«. Ich weiß nicht, ob das ein offizielles wirklich-Projekt ist oder du dazu etwas sagen magst?

Um Robert zu verstehen, muss man viel über Anarchismus nachdenken. Mir persönlich fällt dabei immer Paul Feyerabend ein, welcher, obwohl »Anarchist«, dieses Label lieber mit dem Wort »Dada« ersetzte, da ihn vieles an der Anarcho-Szene an den Puritanismus erinnerte. Wo Feyerabend Dada vorspannte, um dem Anarchismus seine Schwere zu nehmen, da gebraucht Robert gezielt den Begriff des Schelmischen. Schelmisch ist also Roberts dickes Lebenswerk geworden und dieser Schelm hatte es in besonderem Maße auf das Lektorat abgesehen (womit zuallerletzt Robert je etwas zu tun hatte). Nun hatte sich der Schelm einen weiteren Scherz erlaubt: Die Wirklichkeitsdekonstruktion, und zwar nach der Methode des Staccato. Höhnisch schüttelte der Schuft die Sätze und ließ Buchstaben fliegen, zwang der Leser*in den Mikrolesestil auf, bis der rote Faden nicht mehr Da-da-da war. Und dann, nach circa hundert Stunden und hundertundein Buchstäbchen, kam die Retterin zu Hilfe geeilt, unsere liebe Freundin Margot Hruby, ein Fischernetz in Händen, schnell eingefangen den Schelm, weg mit dem Buchtitel »Jeder Fisch hasst alle Haken«, gebändigt mit »Ich komme aus der Herzgegend …«, Buch verlegt, fertig. wirklich hilft jetzt beim Verkauf der Bücher.

Was sind deine/eure weiteren Pläne?

Aktuell haben wir zwei weitere Bücher, die bald erscheinen, und auch neue Projekte am Laufen. Wichtig ist uns auch, einige frische Köpfe in das diffuse Netzwerk des wirklich Postulags holen. Wir mussten schon einige extrem starke Manuskripte ablehnen, nur weil sie umfangreich waren und unsere unentgeltlichen Lektoratskapazitäten begrenzt, darunter eine brillante deutsche Erstübersetzung von Elisabeth Namder des Bruno Jasienski Klassikers »Ein Mensch wechselt seine Haut«, die jetzt bei bahoe books erscheint. Dazu muss man sagen, dass wir uns völlig ohne Verlagsförderungen und Druckkostenzuschüsse über Wasser halten. Das macht uns nicht gerade größer und bekannter, dafür aber absolut unabhängig, während ja Geld auf lange Sicht gesehen immer Abhängigkeiten schafft und niemals seine normative Wirkung ganz verfehlt. Es kann aber sein, dass wir dieses Prinzip aufweichen, um den Autor*innen mehr bieten zu können. Bei wirklich kann man als Autor*in übrigens anonym bleiben, bis jetzt wird man aber davon nicht reich und eine Herausforderung für die Zukunft wird es sein, Autor*innen eine Plattform zu geben, die sich den Luxus der unentgeltlichen Schriftstellerei nicht leisten können.

Weitere Informationen zu wirklich auf: https://wirklich.space/

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