Adorno wurde Zeit seines Lebens vorgeworfen, sich in einem Elfenbeinturm der politischen Praxis zu verwehren – und daran hat sich nicht viel geändert. Er selbst meinte in einem Interview mit der »Süddeutschen Zeitung«: »Ich müsste mein ganzes Leben verleugnen – die Erfahrungen unter Hitler und was ich am Stalinismus beobachtet habe –, wenn ich dem ewigen Zirkel der Anwendung von Gewalt gegen Gewalt mich nicht verweigern würde.«
In dem berühmten »Spiegel«-Interview von 1969 festigt er seinen Standpunkt als Theoretiker und Nichtaktivist: »Ich glaube, dass eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft.« Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist wohl der Fakt, dass seine Texte, wie auch die berühmte »Dialektik der Aufklärung«, die er gemeinsam mit Max Horkheimer verfasste, – aus Gründen – äußerst dicht und kryptisch geschrieben und alles andere als leicht verständlich und massentauglich ist. Man könnte meinen, seine Theorie sollte nur diejenigen erreichen, die genug Zeit und Muße aufbringen konnten, sich an der Uni oder in Lesekreisen ausführlich mit den Texten zu beschäftigen, um Verständnis dafür aufzubringen. Doch während sich Adorno nur scheinbar jeder Praxis verschloss, hat er auch nur scheinbar für andere Elfenbeinturmbewohner verfasst und verpackte seine Gedanken auch (in zum Teil improvisierten Vorträgen) in wunderbarer Sprache.
Kritische Theorie 101
Zu seinem 50. Todestag erscheint nun eine Sammlung von 20 Beiträgen für Rundfunk, Hochschultage und so weiter, von 1949 bis 1968, also den spannenden Nachkriegsjahren, der Zeit von seiner Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil bis in die Jahre der Student*innenbewegungen. Man muss sich die Sammlung von Vorträgen als solche vorstellen, die so auch in Räumlichkeiten der Volkshochschule o. ä. vorgetragen hätten werden können, also einem breiten, interessierten, den Themen vielleicht manchmal auch etwas fernen Publikum zugewandt sind. Es beginnt ein Beitrag über die Neue Musik im Jahr 1954 in Bad Wildungen zum Beispiel so: »Meine Damen und Herren, manche von Ihnen werden wahrscheinlich befürchten, dass ein sturer Fachmann kommt und Ihnen bestenfalls etwas aus seiner Erfahrung von der neuen Musik erzählt – oder ein Historiker, der Ihnen irgendwelche historischen Einteilungen gibt […]«.
Sein dieses Jahr zuerst aufgelegter, hochaktueller Text »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«, den er auf Einladung an der Wiener Uni vortrug, ist ebenso enthalten. Dass er nicht nur nicht staubtrocken ist, sondern auch recht persönlich werden kann, zeigt der fantastische Aufsatz über Marcel Proust, in welchem er einerseits von seinen eigenen Leseerfahrungen berichtet, sowie andererseits Gedanken über das Nicht-Identische einfließen lässt, die so beispielhaft schön zugänglich gemacht werden. Man muss Adorno nicht in allem zustimmen, manchmal scheinen seine Gedanken etwas antiquiert, vor allem in den Schriften zur Musik. Seine Übertreibungen in gesellschaftlich-soziologischen Schriften jedoch dienen oft der Anschaulichkeit. Den Überlegungen zu folgen, ist stets lohnenswert. Gleichzeitig funktioniert die Sammlung der Texte als eine gute Einführung in die Kritische Theorie. Nichts für Adornoiten, die ihn zum Sport lesen.