foto © Curt Cuisine
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Im Land des unbegrenzten Streamings

Am 12. Juni wird in Brüssel das internationale Abkommen zum Schutz von Urheberrechten (ACTA) unterzeichnet. Es soll mehr Schutz des »geistigen Eigentums« und damit weniger Freiheit im Web bedeuten. Wer aber profitiert davon? Die Künstler, die Industrie und die Konsumenten? Ein Versuch, auf das Ganze zu blicken

Womöglich hängen wir alten Männer ja immer noch an der Frage des Besitzes. Ja, Patriarchen sind wir, von klassischem Zuschnitt. Wenn wir einen Hügel besteigen und in die Landschaft blicken, so fragen wir uns, ob es dieses Land noch zu kaufen gibt, ob wir es, wenn es dann uns gehört, bestellen werden, um später Fabriken zu errichten oder einen Musikkonzern – oder vielleicht nur einen Proberaum. Immer wollen wir besitzen, wollen wir die Dinge unser Eigentum nennen. Denn das »Besitzen« ist Teil unserer über Jahrhunderte hinweg konditionierten ?berlebensstrategie, ist Sicherheit, ist Verfügungsgewalt. So ist es auch im Kleinen. Als einfache Musikkonsumenten betraten wir früher einen Plattenladen, gustierten, lie&szligen uns womöglich beraten und haben schlie&szliglich gekauft, Verfügungsgewalt erworben – wenn auch nur eingeschränkt. In der Ära der Schallplatte gab es Musikkassetten zur Vervielfältigung. Musik wurde mit Verlusten (Rauschen) und zeitaufwendig (1 : 1) ??überspielt??. Zwar unkte damals schon die Musikindustrie gegen den Schwarzhandel mit ??Musictapes??, aber die Künstler waren im Vergleich zu heute geradezu geschmeichelt, wenn die Fans ihre Platten in mühseliger Kleinarbeit überspielten. In jedem kopierten, handbeschrifteten Tape steckte ein wenig Liebe, Hingabe. Später gab es die CD und mit der CD kamen die verlustfreie Kopie und das ??Brennen??. Es kamen die Farbdrucker und damit die semiprofessionelle, illegale Vervielfältigung, die Raubkopien. Keine handbeschrifteten Tapes mehr, sondern Farbkopien des CD-Artworks. Zum ersten Mal wurde die Musikindustrie richtig nervös. Allmählich löste sich die Musik von ihrem physischen Tonträger, sie war in gleicher Qualität übertragbar, von CD auf CD, von CD auf Festplatte. Die gro&szligen Umsatzeinbu&szligen kamen aber nicht – die Millionenbeträge, die in Kopierschutzma&szlignahmen gebuttert wurden zahlten sich insgesamt also vielleicht doch aus. Die Künstler selbst waren nicht mehr ganz so geschmeichelt, aber sie nahmen es meist mit Fassung. Sie verdienten zwischen vier und sogar 25 Prozent pro verkaufter CD. Den Rest streiften die Labels, die Industrie, der Handel ein.

Die Sturzbäche

Danach begannen die alten Männer wirklich nervös zu werden. Es kamen Mp3, Web 2.0, rasant ansteigende Speicherkapazitäten, weitaus bessere Internetverbindungen. Der Fetisch des physischen Besitzes begann zu zerbröckeln, allerdings noch nicht ganz. Der ??downgeloadete?? Song auf meiner Festplatte gehört immer noch mir, ich verfüge über ihn. Aber ich habe eine neue Verfügungsgewalt. Anders als bei Platte oder CD verkaufe oder verschenke ich nicht mehr meinen Besitz (die Platte, das kopierte Tape), der dann tatsächlich weg ist, sondern ich ??gebe?? meinen Download via Torrents ??frei??. Ich tausche virtuell, erlaube den Zugriff auf meine Daten, um Zugriff zu den Daten anderer User zu erhalten. Der Song, den ich vermeintlich illegal oder ohne direkt dafür bezahlt zu haben, erworben habe, bleibt mir. Das ist die Büchse der Downloadia sozusagen, die kaum zu kontrollierende Contentvervielfältigung. Biete heute einen Song gratis zum Download an und morgen haben ihn 10.000 Leute auf der Festplatte. Nicht umsonst hei&szligt Torrent übersetzt Sturzbach. Steigen wir Patriarchen neben diesem Sturzbach erneut auf den Hügel, so überblicken wir eine Landschaft endlos vervielfältigter Kulturgüter (= der Content). Wir haben freien Zugriff, können uns nehmen, was uns gefällt, aber es hat kaum noch Wert. Und im Extremfall profitiert niemand mehr davon. Wir blicken in jene Internetutopie hinein, in der alles gratis und frei ist. Das einzige Problem: Dank dieser Freiheit drohen auch die Künstler/Urheber zu verhungern. Damit sind wir beim Kern des Themas, dort wo die Hysterie seit Jahren um sich schlägt, wo die Musikindustrie über sinkende Absatzzahlen lamentiert, wo die Schützer des »geistigen Eigentums« gegen die Verteidiger der Internetfreiheit ankämpfen, wo nicht zuletzt auch die Kunst »ihr Recht« einfordert. Aber wie stehen die Dinge wirklich? Tatsächlich hat sich die Summe der physisch verkauften Tonträger drastisch verringert. Laut dem deutschen Bundesverband Musikindustrie wurden 2001 noch 212,6 Millionen physische Tonträger verkauft, 2010 waren es 115 Millionen. Aber die Summe der (legalen) Downloads ist im selben Zeitraum von praktisch Null auf 77,7 Millionen angestiegen. Dementsprechend kann von einem Einbruch der Musikindustrie nicht die Rede sein – auch wenn aufgrund der illegalen Downloads viele herkömmliche Umwegrentabilitäten ??entwischt?? sind und sich einige Geschäftsfelder drastisch verändert haben.

Das gelobte digitale Land

cc2.jpgAn dieser Rettung der Umsätze waren diverse Ma&szlignahmen der Industrie beteiligt. Etwa Horrormeldungen über Hausfrauen, die in Grund und Boden geklagt wurden (dass die Strafen für den illegalen Download einer CD zigfach grö&szliger sind als bei einem Ladendiebstahl, wird übrigens selten erwähnt), durch reihenweise vom Netz gehängte Downloadportale oder durch die allgegenwärtige ??Verspamung?? bei mutma&szliglichen Gratisanbietern. Am meisten gebracht hat aber eine erneute Monopolisierung. iTunes ist derzeit das grö&szligte Musikgeschäft der Welt – und damit offenbar das Modell, mit dem die Musikindustrie in der digitalen Welt überleben kann. Durch standardisierte Preise, exklusive Tracks und diverse Serviceleistungen wird hier dem Konsumenten ein neues Musikshopping-Erlebnis geboten. Und sogar die Künstler scheinen zu profitieren. Bis zu zehn Prozent verdienen Künstler angeblich für jeden auf iTunes heruntergeladenen Song. Mit CDs lassen sich zwar bessere Beteiligungen erreichen, aber die weltweite Präsenz (oder zumindest Verfügbarkeit) ist auf iTunes selbstverständlich unschlagbar. Ist das gelobte digitale Land mit iTunes also erreicht? Ist es höchste Zeit, mit ACTA und Co. dem illegalen Tauschhandel im Internet den Hahn abzudrehen und sich mit dieser Neuordnung zufrieden zu geben? Nein! Downloads und Torrents sind im Grunde Schnee von Gestern, das aktuellste Modell hei&szligt »Streaming« und wird von Anbietern wie Spotify, Napster, Pandora, Simfy oder Last.fm praktiziert. Und auch iTunes geht mit seiner cloud, die man via App (iTunes Match) aktivieren kann, in diese Richtung. Der Witz beim Streaming ist, dass die Kundin nichts mehr ??downloaded??, sondern sich den Zugang für einen virtuellen Serverzugriff erwirbt. Der Song ist damit endgültig nicht mehr in meinem Besitz, sondern es gibt nur die Berechtigung ihn jederzeit anzuhören. iTunes geht mit seiner cloud bis zur Zusage, dass man für jeden registrierten Song die Streamingrechte erwirbt, also auch für Songs, die man illegal auf die Festplatte ??downgeloadet?? hat. Es ist ein bisschen wie Geldwäsche, noch besser sogar. Seitens der Musikindustrie gibt es dafür einen einleuchtenden Grund. Durch die enorm gestiegenen Datenmengen müsste man für moderne Musikabspielgeräte (vom Handheld bis zum Handy) immer grö&szligere Festplatten zur Verfügung stellen. Au&szligerdem fördert dieses Reinwaschen natürlich die Kundenbindung. Nicht umsonst vergleicht Apple seine cloud gerne mit einem analogen Tauschgeschäft, bei dem man die eigenen Songs hinbringt und in besserer Qualität retour bekommt. Das Ziel ist ein digitaler Megastore, in dem es endgültig alles gibt und alles geboten wird. Wohin sollte man bei so einem Angebot auch sonst noch gehen?

Jenseits des Mainstreams: Streaming-Verlierer

Das klingt aus der Sicht des Konsumenten nicht unsexy. Aber es widerspricht dem Prinzip der Internetfreiheit, der digitalen Selbstbestimmung. Am Ende liegt aller Besitz auf irgendwelchen Serverfarmen, die sich wiederum in Händen von Gro&szligkonzernen befinden. Und Musikurheber verdienen pro gestreamten Song auf Spotify und Co. um die 0,000255 Dollar. Das errechnete zumindest die Süddeutsche Zeitung, aber auch andere Schätzungen übersteigen selten die 0,0007 Dollar-Marke. Um damit einen Monatsgehalt in der Höhe des Mindestlohns zu erhalten, müssten die eigenen Songs monatlich vier Millionen Mal gestreamt werden. Das kann für 99 Prozent aller Künstler keine Existenzgrundlage garantieren, weswegen man jede Musik abseits des Mainstreams jetzt schon als Streaming-Verlierer bezeichnen muss. Vor diesem Hintergrund ist die ACTA-Causa, also die Frage nach strengeren Urheberrechtsgesetzen, zu überlegen. Besteigen wir erneut den Patriarchenhügel – im gestreamten Hier und Jetzt. Wir erkennen, dass die moderne Medienlandschaft überhaupt keinen Besitz mehr zulässt, nur noch Nutzungsrechte. Existenziell betrachtet mag das up to date sein, schlie&szliglich wissen wir, dass wir nichts ins Grab mitnehmen können (zumindest nicht physisch). Ja, unser ganzes Leben ist sozusagen ein gro&szliger Stream, warum sich also Regale oder Festplatten vollräumen? Warum noch besitzfixierter Patriarch sein, wenn einzig die Konsumation des Contents zählt?
Trotzdem gibt es Leute, denen diese virtuelle Konsumlandschaft gehört. Und die uns dazu drängen wollen, nur noch für Benutzungsrechte zu bezahlen, die uns nicht einmal mehr Besitz gönnen wollen. Als gäbe es keine Häuser oder Wohnungen mehr zum Kauf, nur noch Mieten zu bezahlen oder Raumnützungsgebühren. Der Vergleich hinkt, weil es hier um Kulturgüter, ergo geistiges Eigentum geht, er trifft trotzdem ins Schwarze. Weil das geistige Eigentum erst durch die Vervielfältigungsmöglichkeiten – vom Download bis zum Streaming – zum radikal inflationären Gut wurde geht es weniger um das ??geistige?? an diesem Eigentum, als um seine Onlineverfügbarkeit. Es geht weniger um die Frage, ob Kunst als Kunst ein schützenswertes Gut ist oder welchen juristischen Status Eigentum hat, sondern darum, wie mit zeitgemä&szligen Distributionsmöglichkeiten umgegangen werden soll. Und das ist in erster Linie eine Frage nach der Verantwortung aller: der Künstler, der Industrie und der Konsumenten.

ACTA vs. Obi-Wan Kenobi

Welchen Beitrag leistet das Anti-Counterfeiting-Trade-Agreement dazu? ACTA ist (angeblich) kein neues Urheberrecht, sondern schützt vorhandenes Recht besser und vereinheitlicht die Strafverfolgung über Staatsgrenzen hinweg. Gerichtet sei es gegen Vergehen im gro&szligen Stil, gegen kriminelle Organisationen. Also schützt ACTA in erster Linie die Interessen der Besitzverwalter – und nur in zweiter Linie die Interessen der Künstler/Urheber. Gerade diese benötigen aber am dringendsten Ma&szlignahmen, die sie vor der Ausbeutung durch die Besitzverwalter (der Handel, die Firmen, die Industrie) schützen. ACTA scheint hier wenig zu bringen, die blo&szlige Ablehnung von ACTA ist aber trotzdem alles andere als eine souveräne oder heroische Geste, sondern entspricht mehr einer Blödmaschinenstrategie: Verhinderungsstrategien anstelle von Lösungen. Denn die Konsumentin, die sich so billig und frei wie nur irgendwie möglich im Internet bedienen will, verhält sich ebenso verantwortungslos und patriarchalisch wie der Industriekapitän, der seine Pfründe schützt, in dem er alle Rechte an sich rei&szligt. Aber auch die Künstler/Urheber sind keine Engel, wollen sie doch verständlicherweise ebenso vom gro&szligen Kuchen mitnaschen, ergo selbst zu Patriarchen werden. Daran ist wie stets nichts verkehrt – solange berücksichtigt wird, dass aus gro&szligem Profit eben auch gro&szlige Verantwortung resultiert. Oder mit anderen Worten: Wer gegen ACTA und die Industrie ernsthaft auf die Barrikaden steigen will, sollte auch als Konsument mehr Verantwortung zeigen – und sei es durch die Bezahlung einer Kulturflatrate oder anderen, alternativen Bezahlungsmodellen. Nur der Industrie auf die Finger klopfen ist zwar momentan der richtige Impuls, wird aber langfristig nicht ausreichen.

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Text
Curt Cuisine

Veröffentlichung
23.04.2012

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