»Wenden Sie so bald wie möglich«, verlangt die weibliche NAVI-Stimme resigniert, nachdem wir plötzlich vor zwei riesigen, dekorativen Steinkugeln stehen, die die verlangte Weiterfahrt verunmöglichen. »Es gibt Leute, die folgen ihrem NAVI, ohne zu schauen und landen in einem Sumpf«, lacht Iris, die Sängerin von Norah Noizzze, in ihrem weißen Fiat ohne Federung. Dann sagt die Stimme immer rechts an, wo wir doch klar nach links müssen. »Sie geht davon aus, dass du gewendet hast«, sage ich.
Das Triebwerk in Wiener Neustadt liegt an einer vierspurigen Straße mitten im Fabriksgelände. »Der Eingang befindet sich auf der Rückseite«, steht auf der Türe. Hinten schwirren im Halbdunkel Dutzende Mädchen im Garten herum. Sie können nicht still stehen. Die Silhouetten von zwei südlich aussehenden Bäumen heben sich gegen den Himmel ab.
In einer Woche Workcamp fanden sich hier 16 Mädchen mit unterschiedlichen instrumentalen bzw. musikalischen Vorkenntnissen aus vier Bundesländern zu vier Bands zusammen, die heute gleich auf offener Bühne performen werden, wollen und sollen. »Running Order« steht auf der Türe: 20.30 Uhr Schabka (eigentlich schreibt sich das mit cyrillischen Buchstaben …), »das heißt Haube auf russisch – angelehnt an Pussy Riot«, erläutert uns Sara Paloni von der Organisation. »21 Uhr Hotspot?, 21.30 Uhr Disproportionate Reaction, 22 Uhr Aivery«. Verschiedene Bands borgten Equipment her, damit die Girls heute performen können. Die geheime Vorband besteht aus den Coaches und gibt’s sich voll, dürfte aber eher nur beim Soundcheck geprobt haben. Eine trägt eine grün blinkende Brille. »Tanz mit mir« und »Super Anarchie« sind Textfetzen, da alle Frauen gleichzeitig durcheinander singen, versteht man nicht alles. »Don’t complain to me« … Wenn die sich schon so aufführen, trauen sich die Mädchen sicher auch auf die Bühne. Ich will nicht gemein sein, aber gegen die Vorband wirken die Mädchen dann wie Profis.
Schabkas Küchenschaben-Rap
Whow, da sind doch »Pussy Riots« auf der Bühne: Die Schlagzeugerin trägt eine grüne Haube über das Gesicht gezogen, die Synthie-Spielerin hat sich in ihre blaue durchsichtige Haube riesige Löcher für Augen, Nase und Mund geschnitten, die Bassistin mit dicker roter Wollhaube über dem Kopf scheint hingegen null Sehschlitze zu haben. »Wir sind Schabka!«, brüllt eine und reckt die Faust. Ein Baby schreit aus dem Publikum, es klingt belustigt. Düdeldü macht die Orgel, ein wolkiger Synthie-Beginn. »Adin! Dva! Tri! Cetirje!« und los geht’s! Tiefe Stimme, das klingt super, sehr basslastig die Nummer, hoher, schriller Synthie dazu, Russisch! Die Schabkas schlagen sich durch mit dem Rhythmus, wälzen sich kräftig vorwärts, Gegröle im Publikum. Die mit der Wollhaube sieht sicher nix. »Da! Hocemo Sloboda!«, schreit die 17-jährige Sängerin, es klingt gut, bisschen viel Griffe auf der Gitarre für eine Punk Band … Da ich nicht russisch kann, verstehe ich »Wir wollen Freiheit!« – das wäre die slowenische ?bersetzung. Die sind super für fünf Tage Unterricht bitte. Schlagzeug, Becken, Krach und Schluss. Die haben alle lange Haare unter ihren Hauben. Das nächste Lied der Mädchenbande, »Wir sind müde« auf Deutsch, ist dann ganz anders gestaltet. Und das dritte Lied erst, noch mal völlig anders: »Um euch kurz auf das Lied mit den Küchenschaben vorzubereiten. Dazu gibt es einen Tanz. Streckt die Hände nach vorne, stark verkrampfen (macht es vor), als dritten Schritt macht ihr die seltsamsten Bewegungen, die euch gerade einfallen.« Pling plong pling macht der Synthie, die jungen Frauen lächeln sich an und los geht’s. Die hohe Stimme der Rapperin rappt sich weg. Pause. »Eigentlich bin ich durstig«, sagt eine und trinkt aus einer Flasche, »geht’s wieder, ganz genau« und weiter Rap. »Das coole Mädchen mit der Brille. Stille«. Und Stille und weiter geht’s. Wer mit wem was hat, wird aufgezählt, während die zweite ihre Kommentare mit »Kacke« und »Scheiße« dazu rappt und ins Publikum lächelt. »Die Liebe ist manchmal wie ein schwarzes Loch. Küchenschaben yeah.« Die halten durch. »Wir spielen keine Covers, sondern wir haben unsere vier eigenen Lieder geschrieben«, stellt eine am Ende fest und reckt stolz ihre Nase in die Luft. »Riot! Riot! Riot! Riooooooot!«
I wish … Hotspots?
Auch bei der zweiten Band fällt die musikalische Einordnung schwer, Rock, der ja eigentlich leichter zu spielen wäre, ist das nicht. Heavy Metal? Hardrock? Drei Gitarristinnen, die wirklich viel spielen, dazu eine zerbrechliche, sehnsuchtsvolle Stimme. »Please show yourself« und immer wieder »I wish« – aber was? »You seem so far away. I wish ??« Jubel brandet auf, überhaupt ist das Publikum irrsinnig nett und geht voll mit. Beim folgenden Rap greift eine zweite Sängerin ein, sie singen zu zweit, eine rechts, eine links – voll Stereo. Und dann kommt der Satz, der mich als verhinderte Schlagzeugerin (ich habe meine Tama Royalstar-Drums Sunita von »Bloody Mary« geschenkt, als die aus Bosnien geflüchtet kam und kann nun selber nicht mehr üben) entsetzt: »Sie spielt, als ob sie schon immer Schlagzeug gespielt hätte, dabei spielt sie erst seit drei Tagen!« Wie ist das möglich? Eine musste eben ans Schlagzeug und Coach Sushi erreichte nicht nur, dass sich das eine zutraut, sondern dass sie die Vierer-Partie mit allen Extremitäten auch technisch unter einen Hut bringt. Das macht mich fertig. Vor allem, als dann auch noch ein Suffragetten-Lied kommt, die junge Frau auf der Bühne erläutert, wer die Suffragetten waren und keine im Raum weiß, dass unsere Frauen- bzw. Mädchenband Mitte der 1980er Jahre Die Suffragetten hieß. Manchmal wünsche ich mir mehr generationenübergreifende Informationen im Feminismus. ?ber mittlerweile mehrere Generationen hinweg. Auf der Bühne schreit inzwischen eine urlaut, lässt ihre roten langen Haare kreisen und kriegt viel Applaus. »Meine Tochter hat hier im Camp das erste Mal E-Gitarre gespielt. Aber Bühnenerfahrung hatte sie schon als Tänzerin. Das macht viel aus«, sagt ein stolzer Vater, der aber mit den Nerven fertig ist vor lauter Aufregung. Seine coole, blonde, 14-jährige Tochter auf der Bühne ließ sich nur einmal zu einem Lächeln hinreißen. Eine Mutter säuft sich an.
Disproportionate Reaction – One Way (or Another)
Wie ein Springteufelchen hüpft eine Kleine hinter dem Schlagzeug hervor und winkt und redet gleichzeitig. Wie die dann am Schlagzeug loslegt, sich reinschmeißt, fröhlich alles gibt, würde man sie niemals im Leben für eine Geigerin halten! Noch eine, die das erste Mal Schlagzeug spielt (Langsam bin ich dafür, Schlagzeug als verpflichtendes Fach für Mädchen in allen Schulen einzuführen). Auch ihre Geige spielt die 14-jährige Marieke nachher so ähnlich wild. Die Mädels covern »Keep on Living« von Le Tigre. Nach dem Wechsel sitzt eine Julia mit AC/DC-Leiberl und roten Haaren am Schlagzeug, sie legt’s wie ein Melodieinstrument an. Der Text fließt über den Rhythmus drüber, »here is your live time« – absolut tanzbar. Schöne Stimmen, sehr melodiös, dazu Klavier am Synthie, alle drei Sängerinnen schauen die Klavierspielerin an. Drei Profile wie Scherenschnitte hintereinander. »I miss you every day«. Eine beißt Nägel im Publikum. »Speechless«, heißt das Lied, dafür wird aber viel gesungen. »Come, come closer to me.« Und Basstrommel-Unterstützung. Aber voll abheben tun alle Zuhörerinnen bei der alten Blondie-Nummer »One Way (or Another)«: »I’m gonna get ya, get ya, get ya – One way or another.« Wilde Ausbrüche auf der Bühne und davor. Blondie, die ihren Spitznamen von ihrem jüdischen Liebhaber erhielt, der sie nach dem Schäferhund von Adolf Hitler benannte, die sich aber später von ihm wegen zu anstrengendem Liebes-Hass-Verhalten trennte, wäre begeistert. Das Lied »The Bridge« klingt urschön auf der Compilation. »And the ship goes up and down and in the morning sun you get up and look around … I never come back!« Happiness!
Aivery Got Home
Eine eher dünne, starke, schnelle Schlagzeugerin mit Punk-Frisur, die im Stehen über die Trommeln quer herunter wirbelt, dazu zwei sich ähnlich sehende Blondinen in Sommerkleidern ohne Träger, wovon die eine später am Schlagzeug total anzaht und dichte Basis liefert. Von dieser Band mit dem Fantasienamen Aivery sind alle hingerissen. Wie die eine Punk-Frau voll konzentriert auf ihrer Gitarre ihre eigenen Riffs spielt, nichts mehr mitkriegt von der Welt um sich herum, sich hin und weg spielt, wie die zwei Blondinen sie fasziniert und ein bissl besorgt beobachten, wie Jasmin dann ihre eigene Musik auf die Reihe kriegt, rüber und zum Abschluss bringt – das muss man gesehen haben. Alle lächeln erleichtert. Die wirken wie Profis, nix mehr Workcamp. »Uns gibt’s seit Montag«, lacht Doris, die bei Aurora von Petra und der Wolf bzw. Norah Noizzze Schlagzeugunterricht kriegt, seitdem sie vor einem Jahr beim Girls Rock Camp auf den Geschmack kam, »etwas nicht ganz typisch Frauenmäßiges zu machen?. Jasmin sieht auf der Bühne ganz anders aus, als unten – seltsam. Sie hört 1980er und 1990er Jahre Punk, Siouxie & The Banshees, Fugazi. Die Band macht auf jeden Fall weiter. Das erste Lied stammte von Franzi, der Bassistin. »Eine selbst bestimmte Einstellung steht bei uns ganz oben«, sagt diese, zieht ihr Kleid zurecht und verschwindet. Auf der schwer zu empfehlenden Compilation schreien alle: »I got home, you got lost!«
Bleibt zu hoffen, dass noch viel junge Frauen zu ihrer Musik heim finden werden und dass sie dabei unterstützt werden, so viel wie möglich.
Im Auto zurück nach Wien tröstet mich die bekannte aus Kärnten stammende Bassistin und Elektronikmusikerin Christina Nemec (Labelbetreiberin und Netzwerkerin – Comfortzone), dass sie nur Bass spielen will und sonst nix, während Sängerin und Gitarristin Iris das inspirierend findet, wenn sie mal am Schlagzeug sitzen und »rumklopfen« (?!) darf. Manche spielen eben mehrere Instrumente locker vom Hocker und manche konzentrieren sich auf eines und lieben das »with all their heart«, andere erreichen nie die Perfektion, die männliche Musiker oft verlangen und voraus setzen – davon darf man sich nicht abschrecken lassen! Die Navi-Stimme schweigt sich aus. Happiness!
Compilation zu bestellen unter www.girlsrock.at