Man muss es mit beiden Händen halten, dieses Denkmal: »Im Radius – Pionierprojekte kultureller Stadtentwicklung Wien | 1988–2025.« Ein Titel, den man brüllen mag, so viel Gewicht haben knapp vier Jahrzehnte Aktivismus und Beharrlichkeit. Er gilt einem Buch, das keine lockeren Gedanken über Urban-Gardening-Utopien versammelt. Es ist der Kanon der Kulturarbeit. Und ein Werk, das so schwer ist, dass allein der Akt der Lektüre zur sportlichen Erfahrung wird.

Im Zentrum der Leibesübung steht der Aktionsradius Wien. Eines jener Mitmachprojekte, von denen man nicht glauben kann, dass sie echt sind, weil sie sich nicht anfühlen wie Magistratsabteilungen, sondern wie Nachbarschaft. 1988 von Uschi Schreiber und Dieter Schreiber gegründet, um Stadtentwicklung nicht den Betonleuten zu überlassen, hat der Aktionsradius das gemacht, was in Wien sonst nur gelingt, wenn man viel Alkohol ausschenkt: Er hat Menschen zusammengebracht. Im Augarten. Um den Gaußplatz. Damals eine Glasscherbengegend, kein Ort, an dem man stehenblieb. Hier hat der Aktionsradius 1992 seine Zentrale aufgebaut. Hier spielt die Stadt seit Jahrzehnten ihr alternatives Set. Kein Mainfloor, eher Nebenbühne. Und doch: wichtiger als alles andere, was in dieser Stadt je als »Kulturquartier« oder »Ankerzentrum« etikettiert wurde.

Das alles klingt rückblickend romantisch, nach »Wir haben damals noch für Ideen gekämpft« und so weiter. Aber im Kontext der späten Achtziger, frühen Neunziger war diese Idee, Obacht: subversiv. In einer Zeit nämlich, in der Europa plötzlich vor der Haustür lag, galt Wien als – das erzählen die Ewigälteren immer wieder – graue Maus. »Sanfte Stadterneuerung« hieß es deshalb irgendwann. Und während die Stadtverwaltung in Foldersprache erklärte, was »Partizipation« sein könnte, hat man am Gaußplatz längst ausprobiert, wie sich sowas anfühlt.
Die Avengers in analog
Natürlich kann man sagen: ein Jubiläumsband, 37 Jahre, toll! Aber dieser dreieinhalb Kilo schwere Buchziegel ist kein Rückblick, eher eine Art Prequel des Livestreams, den wir Leben nennen. Zusammengestellt aus Gesprächen mit Musiker*innen, Künstler*innen und sogenannten Wegbegleiter*innen. Eine A-, B- und C-Liste derer, die Wien in den letzten Jahrzehnten bewohnt, ja: erträglich gemacht haben. Otto Lechner, Linde Waber, Thomas Mießgang, Bodo Hell – die Avengers im Aktionsradius. skug-Autorin Ania Gleich hat mit ihnen gesprochen, über 30 Interviews geführt. Weil in einer Dokumentation über Pionierprojekte die Wer-was-wann-wo-wie-warum-Befragung der einzig ehrliche Weg ist. Und ja, man merkt bald: Es geht nicht darum, einfach nur vergangenheitsbeduselt die glorreichsten Jahre zu feiern (obwohl, das auch!). Es geht vor allem darum, Kulturarbeit aus kleinsten Kleinteilen zu einem Gipfelsturmerlebnis zu machen.

Dieses Erlebnis hat viele Worte. Und circa ebenso viele Fotos und Bilder. Denn Reden kann man lange, aber nur das Foto zeigt gnadenlos, wie die Leute wirklich drauf waren. Wie die Plätze wirklich aussahen, bevor sie saniert, gentrifiziert oder verschwendet wurden. Und gerade, weil es immer um Stadtentwicklung geht, sind diese Bilder keine bloße Dekoration. Sie sind das Gegenbeweismittel zu den Grautongeschichten. Sie zeigen die improvisierten Bühnen, die schlecht ausgeleuchteten Räume, die ersten und letzten Bürger*innenversammlungen, bei denen die Leute noch Innenräume mit Marlboro Gold vollqualmten und dabei lachten.

Das ist die unbestechliche Leistung dieses Buchs: Es präsentiert uns nicht den totgerenderten Stadtentwicklungsschwachsinn, den uns heute Investorschleimlinge auf Hochglanzbroschüren verkaufen. Es zeigt uns die analog gefilterte, körnige Wahrheit. Wenn man die Fotos der frühen Projekte anschaut – die Augarten-Initiativen, das Kulturnetz Transdanubien – sieht man keine durchdesignten Matcha-Latte-Menschen. Sondern ehrliche Leute, die im Pullover am Gaußplatz stehen und einfach mal machen. Die schiere Menge an Bildern und ihren Unterschriften macht dieses Buch so zu einer kulturellen Spurensicherung. Schließlich lebt Erinnerungskultur auch von dem Moment, in dem man ein Foto aus den Neunzigern sieht und denkt: »Na serwas, so sah das damals aus!«
Die Gebrauchsanweisung von hinten lesen
»Im Radius« ist Erinnerung ohne Pathospallawatsch. Dafür mit Leidenschaft, die zeigt: Wien verändert sich, aber nur so, dass man es kaum merkt. Während andere Metropolen permanent »neu denken«, »neu erfinden«, »neu erzählen«, hat die Stadt längst verstanden, dass das eigentlich niemand will. Hier ist Veränderung ein dialektischer Vorgang: Man beschließt sie und dann bleibt alles, wie es war. Vielleicht zeigt sich hier die wahre Bedeutung des Aktionsradius. Die Fähigkeit, etwas in Bewegung zu setzen, das gar nicht bewegt werden will. Es ist Widerstand als Kulturtechnik. Beharrlichkeit aus Überzeugung. Irgendwo zwischen den 548 Seiten versteht man, dass das, was dieses Buch dokumentiert, nicht einfach nur Stadtgeschichte ist. Es ist eine Gebrauchsanweisung, die man von hinten liest – fürs Überleben im urbanen Dauerloop.

Der Aktionsradius hat nie den Anspruch gehabt, die Welt zu retten. Sein Wirkungsbereich mag einmal da gewesen sein, dann dort. Aber immer der eine Raum, in dem sich jemand traut, laut zu denken, ohne an Buzzword-kompatiblen Businessblödsinn zu denken. Das ist in Wien, wo man Engagement lieber absorbiert, als es zu fördern, eine Besonderheit. Alles wird hier irgendwann zur Institution, sogar die Revolte. Der Aktionsradius hat sich dem erfolgreich entzogen, weil er nie cool war, nur konsequent. Die radikalste Form von Widerstand, die man sich vorstellen kann. »Im Radius« ist deshalb kein Abschluss, sondern ein Reminder. Dass Stadt nur funktioniert, wenn jemand hinschaut, wenn jemand widerspricht, wenn jemand tut. Und Wien – das ewige Dazwischen aus Schönheit und Selbstsabotage – braucht solche Orte, an denen sich das Denken noch traut, schwer zu sein.












