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Anna Sophia Defant

»s:e«

Unit Records

Der Jazz hat sich in den jüngsten Jahrzehnten immer mehr von definierten Schulen und Stilen entfernt. Was früher in Kategorien wie Hardbop, Avantgarde, Fusion oder Third Stream verhandelbar war, hat sich in ein Patchwork aus Einflüssen und individuellen Handschriften aufgelöst. Auch in Wien – die Musikstadt blickt auf eine reiche Jazz-Tradition und eine vitale freie Szene – macht sich diese Tendenz bemerkbar. Das Quartett der aus dem Jazz-lastigen Saalfelden stammenden Pianistin, Sängerin und Komponistin Anna Sophia Defant steht für eine junge Generation von Musiker*innen, die gemeinsame Klangräume höher schätzen als sol(ip)istische Egotrips. Improvisation wird zum miteinander gesteuerten Lot, taucht ein in Klang und Form. Der Verzicht auf einen (Kontra-)Bass führt dazu, dass kein schweres Fundament da ist, ein solches kann ja manchmal wirken wie Betonpatscherln. So entgeht man auch viel leichter dem Zwang zu Swing, Groove oder einer anderen bestimmten Form. »s:e« ist kein aufdringliches Crossover-Statement. Bemerkenswert, zumal in einer Zeit, in der viele Musiker*innen gerne Genregrenzen einreißen oder ignorieren. Das Album zeigt vielmehr, dass Jazz auch 2025 ein Experimentierfeld für leise, unspektakuläre, aber umso tiefer gehende musikalische Dialoge sein kann – ohne dass die Protagonist*innen Angst vor Brüchen, Dissonanzen oder offenen Enden hätten. »s:e« widerspricht jedenfalls der gegenwärtigen Musikwelt mit ihrem lauten Geschrei nach Aufmerksamkeit. Track 5 »Heuschreckendebattierclub« macht seinem verschrobenen Titel alle Ehre: Wie ein Schwarm Heuschrecken bricht das Ensemble aus, flattert, zirpt und knistert. Die Gitarre zerrt das Ganze abschnittsweise in rockige Gefilde, jedoch ohne sich in ein klassisches Solo zu verirren. Das Klavier setzt helle, manchmal schroffe Akzente, während das Schlagzeug zwischen fein aufgelösten Texturen und plötzlichen Verdichtungen changiert. Das Tenorsaxofon steuert einmal fragile Linien bei, dann wieder ein fraktales Riff – das versetzt das Gesamtbild in flirrende Bewegung. Eine Debatte, ein spielerischer Diskurs. Die Stimmen widersprechen sich, dann sind sie wieder d’accord – ironische Untertöne dürfen auch nicht fehlen. In Track 9 »Luft« zeigt sich die andere Seite des Quartetts: Hier ist das Spiel zarter angelegt. Das Saxofon eröffnet schüchtern, mit Arabesken, die an das Spiel von Bennie Wallace erinnern. Das Klavierspiel wirkt einmal wie hingetupfte Gedanken, dann wieder geben sparsam, aber pointiert eingestreute Akkorde dem Ganzen Halt. Das Schlagzeug greift etwas später ordnend mit einer schlichten, aber klaren und vor allem sehr geraden Figur ein. Die Gitarre, clean, wirkt zeitweise trotzig-verspielt. Defant scheut sich nicht, sehr einfache Tonfolgen repetitiv anzuwenden. Hier fehlt kein Fundament. Das Weglassen tiefer Lagen schafft im Gegenteil jenen Raum, in dem sich Gitarre und Klavier umeinanderwinden können. Das tun sie, ohne jemals aneinander zu kleben. »s:e« ist ein gelungenes Debüt mit einer Musik, die neugierig bleibt, Fragen stellt und niemals statisch wirkt. 

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Text
Sepp Wejwar

Veröffentlichung
08.07.2025

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