Mr. Chi Pig 2009 in Zwiesel, Bayrischer Wald © Peter Kaiser
Mr. Chi Pig 2009 in Zwiesel, Bayrischer Wald © Peter Kaiser

Open your mouth and say… farewell!

Mr. Chi Pig, charismatischer Sänger der kanadischen Hardcore-Skate-Punks SNFU, ist am 16. Juli 2020 mit 57 Jahren verstorben. Ein trauriger Anlass, um an viele fröhliche Stunden mit seiner Musik zu erinnern.

Mr. Chi Pig, geboren am 16. Oktober 1962, wuchs als Kendall Stephen Chinn, als zweitjüngstes von zwölf Kindern deutsch-chinesisch-kanadischer Eltern in Edmonton, Alberta, auf. In Interviews – besonders eindringlich in der Doku »Open your mouth and say… Mr. Chi Pig« (Prairie Coast Films, 2010) – erzählte er von einer von Armut und häuslicher Gewalt geprägten Kindheit. Aber auch von Zuneigung und Zusammenhalt unter den Geschwistern. Als Jugendlicher begeisterte er sich für Skateboarding und gewann einige Meisterschaften. Seine dabei erworbenen Jump Skills sollten ihn wenig später zu einem der vitalsten Frontmen machen. Beim Skaten lernte er die Zwillingsbrüder Brent und Marc Belke kennen, die sich neben den Boards auch an den Gitarren versuchten. 1981 führte die gemeinsame Begeisterung für Punk Rock zur Bandgründung. Und bald wurde aus den Live Sex Shows Society’s No Fucking Use, kurz SNFU.

And no one else wanted to play… like that!
SNFUs erste drei Alben zählen klar zum Besten, was Hardcore in der zweiten Hälfte der 1980er zu bieten hatte. SNFU spielten verdammt tight und schnell, aber nicht, um ostentativer Virtuosität oder des Brechens von BPM-Rekorden willen. Sie waren melodisch und catchy, aber nicht poppunkig cheesy. Etliche Riffs und Soli der Belke-Brothers waren metallisch, aber nicht »Crossover«. Manch erstklassige Hardcore-Peers depotenzierten sich damals mit dem Schielen aufs größere Metal-Publikum zu zweitklassigen Speed-/Thrash-Bands. Vor allem aber hatten SNFU mit Mr. Chi Pig einen herausragenden Texter, talentierten Zeichner und charismatischen Sänger, der tatsächlich sang; kein x-beliebiger Shouter, sondern eine starke Stimme, so unverwechselbar wie die von Jello Biafra, H.R. (Bad Brains) oder Greg Graffin (Bad Religion). Der hagere Chi blieb auch bei Stimme, wenn er über die Bühne fegte und bis an die Decke der Clubs sprang. Irgendwann das alles mit Dreads und irgendwann das alles auch in Drag. Maximaler Körpereinsatz musste selbst bei homophoben Jocks für offene Mäuler gesorgt haben. Der gegrölte Beifall galt jedoch mehr dem Freak auf der Bühne, weniger dem Menschen dahinter. Auch Spannungen innerhalb der Band führten zu einem ersten, knapp zweijährigen Split.

»Beautiful, unlike you and I«
In der erwähnten Doku bringt Mr. Chi Pig das Dilemma von Außenseiter*innen unter Außenseiter*innen auf den Punkt: Als Schwuler hätte er nicht zu den Punks gepasst. Und als er 1990 nach Vancouver zog, passte er als Punk nicht in die dortige Schwulenszene. Vielleicht tragisch, dass er nichts mit dem Kreis um den aus Toronto stammenden Bruce LaBruce zu tun hatte. Dessen Queercore-Strategien durchkreuzten nach Möglichkeit besagtes Dilemma. Mr. Chi Pig hingegen schlüpfte in seinen vielseitigen Texten öfters in die Rolle des Hetero-Akteurs oder -Beobachters. Zwei der frühesten SNFU-Songs, »Victims of the womanizer« und »She’s not on the menu«, zählen zu den – leider – rar gesäten, sich klar antisexistisch positionierenden Songs des US-Hardcore der 1980er. Um welch »monströse« Liebe es in »Lovely little Frankenstein« geht, bedarf keiner allzu großen Dechiffrierungskünste: »I wonder what Mom and Dad would say, I wouldn’t want to bring them shame. I know one day I’ll have to tell them. Oh yes I’ll tell them about ›it‹«.

»Writing my will with a cockatoo quill«
Mr. Chi Pigs Texte sind reich an Wortspielen, gespickt mit sardonischem Witz. Zwischen Nonsens, Absurdem, Trivialem, Tragischem sowie unbestimmbar ineinanderfließenden Anteilen aus Fiktionalem und Autobiografischem blitzt oftmals etwas zutiefst Menschliches, Optimistisches hervor: »Not much grows in the basement, but I’ve found, to my amazement, even the slightest glimpse of sun can pick me up when I’m down«. Einige von Chis besten Texten funktionieren mit wenigen Zeilen wie komprimierte Kurzgeschichten: z. B. die Mordgroteske »Where’s my legs?« mit der unsterblichen Zeile »So I lay in limbo, in agony, the world’s first zombie amputee«; oder »Joni Mitchell Tapes«, die nach einem tödlichen Autounfall weiterlaufen: »You can’t separate a man and his Joni tapes«. Wenn das mal keine popkulturell geprägten Bilder evoziert, die gerne filmisch zum Laufen gebracht werden wollen. Einige Songs der 1990er sind bissige Kommentare zu gehypten Celebrities; z. B. »Better than Eddie Vedder«, »You make me thick« über Kate Moss als Bulimie-»Idol« oder »Charlie still smirks« mit einer Punchline gegen Axl Roses T-Shirt-tragende Manson-Glorifizierung.

»Reality is a ride on the bus«
SNFU waren in den 1990ern drei Alben lang bei Epitaph unter Vertrag. Aufgrund der Melodycore-Label-typischen glatten Produktionen klangen die Songs geschliffener als zuvor; waren aber in puncto Spielwitz den kommerziell weitaus erfolgreicheren Kollegen von Bad Religion, NOFX oder Green Day, als deren Support sie tourten, immer noch vorzuziehen. Songs wie »Painful Reminder« und »Fate« bleiben über Genregrenzen hinweg klasse Rocksongs. Dass Epitaph SNFUs Vertrag 1997 nicht mehr verlängerte, war wohl ein Schlag, von dem sich die Band mit etlichen darauffolgenden Trennungen und Wiedervereinigungen nie mehr so richtig erholte. Auch mit dem großartigen Reunion-Album »In the meantime and in between time« (2004), das einige ihrer besten Songs mit bemerkenswerten Texten beinhaltet, blieben sie »musicians’ musicians«.

»A wreck in progress«
Mr. Chi Pig machte eine viel zu spät diagnostizierte Schizophrenie zu schaffen. Er kämpfte mit seiner lebensbedrohlichen Crystal-Meth-Sucht, verlor dabei sämtliche Zähne und war zeitweise obdachlos. Ab 2007 stabilisierte sich sein Zustand halbwegs. Vom Crystal kam er los; zu Alkohol und Nikotin pflegte er weiterhin ein wenig gesundheitsförderndes Naheverhältnis. Ab 2009 tourte er als einzig verbliebenes SNFU-Originalmitglied mit wechselnden Lineups auch durch Europa. Eine schwere Lungenentzündung beraubte ihn 2011 seiner bis dato erhalten gebliebenen Stimmgewalt. Dennoch gelangen 2013 die lange verschobenen Aufnahmen zum letzten Album »Never trouble trouble until trouble troubles you«. Auf diejenigen, die SNFU schon in den 1980ern erleben konnten, mag Chi in jenen Jahren als »Überlebender« wie der Schatten seiner selbst gewirkt haben. Für Spät(er)geborene wie mich ging von seiner Präsenz und dem mitteilungsfreudigen Anekdotenschatz immer noch einiges an inspirierender DIY-Kraft aus; etwa im Wiener Chelsea 2009, als meine Band AliMuffa SNFU supporten konnte, und auch noch bei ihrem letzten Wiener Gig im Bach im Jänner 2017.

In seinem wahrscheinlich letzten Interview, im November 2019 mit dem kanadischen Magazin »BeatRoute«, sagte Chi ungerührt, er hätte laut medizinischer Diagnose nur noch einen Monat zu leben. Der Moment zähle. Er zeichne jeden Tag. »So, I’m drawing myself to death.« Stellen wir uns Mr. Chi Pig als einen Menschen vor, der Frieden mit sich gefunden hat. Und dem wir das nachrufen dürfen, was er über Keith Haring in »I think fine art’s fine« sang: »Painted up until the day he died, leaving priceless works behind. Oh yeah, I really dug that guy!«

Mr. Chi Pig 2009 in Zwiesel, Bayrischer Wald © Peter Kaiser

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Text
Peter Kaiser

Veröffentlichung
23.07.2020

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