Das soll Literatur sein? Ein Tweet? Der Literaturwissenschaftler Holger Schulze nickt. »Nicht: Was ist Literatur? Sondern: Wo findet sie statt?« Und das tut sie nach Schulzes Ansicht im Internet. »Literarische Erfahrungen ereignen sich nicht nur zwischen zwei Buchdeckeln, sondern auch im Netz, in Kurznachrichtendiensten oder beim Lesen oder Verfassen von Statusupdates«, stellt er im Gespräch fest. Später definiert er die Orte noch genauer. Smartphones, Werbetafeln, Häuserwände, beim ÖPNV, Bar-, Gym- oder Café-Gespräch, beim Online- oder Präsenz-Shopping. Dieser Literatur gibt er den griffigen Namen »ubiquitäre Literatur«. Also eine allgegenwärtige Literatur. Und wir, meint er, sind süchtig nach dieser Allgegenwart. Schulze bezeichnet den*die am Handy Tweets konsumierende*n und schreibende*n Leser*in als »Lectomaniac«. Sein Ansatz ist radikal nicht-kulturpessimistisch. Ubiquitäre Literatur sei eine »vorbeifliegende Literatur«, die sich »intensiv in unser Erleben an jedem Tag einschreibt«.
Poetik der Partikel
Was da im Internet zirkuliert, bezeichnet Schulze als Partikel. Partikel sind die kleinsten Teile aufgelöster Texte. Kein Text ist vor seiner Auflösung sicher. Alles kann zerstäubt und neu zusammengesetzt werden. So entsteht eine Textwolke aus Lieblingsstellen, Pointen, Fan-Parodien und Remixes. Das Besondere an Partikeln ist, dass sie mit ihrer Umgebung umgehend in Beziehung treten können. »Die Meme, Stehsätze, Phrasen oder Dialogschemata, die sich hier herausbilden, sie gehen jeweils umgehend eine Verbindung mit jedem Thema, jeder Textpersona, jeder Redesituation ein«, erklärt Schulze. »Die kleinsten Partikel, die so leicht vorüberfliegen, sie vermählen sich umso fixer.« Das alles ist eingebunden in ein Affektgeschehen mit einem*einer Partner*in, einem*einer Freund*in oder in einer Freund*innengruppe. Von diesen Voraussetzungen ausgehend, entwickelt Schulze seine »Poetik der Partikel«.
»Wir leben in der Epoche atomisierter Textpartikel: Diese Textpartikel sind unsere Literatur.« (Holger Schulze)
Schulze sieht in der Dummheit eine Kunstfertigkeit, eine generative Kraft, die aus den umherfliegenden Partikeln neue kleine Texte kondensiert. »Mir geht es hier vor allen Dingen um ganz alltägliche, niedere, banale Formen des Schreibens«, führt Schulze aus. »Die Schlichtheit, Direktheit, auch Körperlichkeit, Situativität der ubiquitären Literatur macht sie zum einen so charmant, da ganz aus dem Moment geboren, und zugleich auch oft kryptisch, da die Momentkonstellationen, ihre Bedeutungshöfe und Assoziationsareale schlichtweg idiosynkratisch und persönlich sind.« Eine hermeneutische Interpretation solcher Texte hält er für den falschen Ansatz. Das würde nur den Genuss der ubiquitären Literatur schmälern. In den meisten gesprochenen oder geschriebenen Äußerungen ginge es ohnehin nicht um Aussagen oder Argumente, meint Schulze. Meistens gehe es um Bedürfnisse, Begehren, Imaginationen und Affekte. »Über die lässt sich nicht argumentieren – jedoch ein Bezug herstellen, ihnen folgen, sie weiterführen oder umkehren, an sie anschließen oder anders fortgehen.« Schulze versucht, die ubiquitären Texte literaturästhetisch einzukreisen.
Gerahmte Momente
Schulzes Poetik schärft tatsächlich den Blick. »Ubiquitäre Literatur« zeichne sich durch Leichtigkeit, Schnelligkeit und auch durch Vielschichtigkeit aus, erklärt er. Der von ihm in seinem Buch zitierte Tweet von @tony_baumann vereint diese drei Eigenschaften in sich. Es ist Weltfrauentag. Ein Grund zum Feiern. Also: Bierhelm auf! Aber das ganze Anliegen des Weltfrauentages wird durch die geschlossene Kita konterkariert. Jetzt feiert die Frau mit ihrem Bierhelm bei ihren Kindern im Kinderzimmer. Ein mit Leichtigkeit schnell getippter Tweet. Aber eben auch ein lakonisches Bild, das viel über die Situation von Frauen in unserer Gesellschaft aussagt. Ein Bild, das viel über die Heuchelei des Weltfrauentages sagt. Ein Bild, das vielschichtige Diskurse und Debatten mit in sich aufnimmt. Und dennoch: Man versteht das Anliegen auf Anhieb. Die Vielschichtigkeit ist hier keine akademische Raffinesse. »Viele Schichten verknüpfen, verweben, verschränken sich hier – aber sie tun dies alles an der Oberfläche.«
»Literatur allerorten ist klebrige Literatur. Sie ist alles andere als flüchtig: Sie bleibt bei dir. Sie bleibt im Moment der Erinnerung, als ich diese Zeilen las. Sie bleibt bei dir und den Autor*innen. Klebt immer noch. Sie ist gebunden an Orte und Zeiten und Menschen und Momente.« (Holger Schulze)
Der Tweet leistet noch mehr, erklärt Schulze. Er koppelt das Individuelle ans Politische. Er versetzt den eher vatertagskonnotierten Bierhelm auf einen Frauenkopf und ins Kinderzimmer. Schulze spricht hier in Anlehnung an die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari von der »Deterritorialisierung« von Schlagwörtern und Begriffen. Und natürlich gehört der Tweet in eine lange Kette von Aussagen zum Weltfrauentag. Das ubiquitäre Schreiben, meint Schulze, operiere oft auch nach den Prinzipien Herauskopieren, Überführen, Einfügen, Modifizieren, Rekombinieren, Umkomponieren, Ausfabulieren, Weiterschreiben, Umschneiden, Neuordnen und Absenden. Bei diesen Operationen wiederum komme es auf Genauigkeit im Detail, Anschaulichkeit und Haltbarkeit an. Mit Haltbarkeit ist weniger ein festes Trägermedium gemeint. Die Partikel werden aber gerade durch ihre Kürze lange in Erinnerung bleiben. »Der Moment, in Wort oder Bild oder Klang gefasst, wird gerahmt gespeichert und weitergereicht«, erklärt Schulze.
Identität als Performance
Eine Literatur, die im Internet oder auf den Fenstern von U-Bahnen stattfindet, definiert auch den Begriff des*der Autor*in neu. Holger Schulze verwendet den Begriff der »Textpersona«. »Er scheint mir produktiver und hilfreicher zum Verständnis aktueller performativer Alltagspraktiken als Begriffe wie Identität oder Subjektposition«, sagt er. Bei »Identität« oder »Subjekt« denkt man schnell, eine Person besitze so etwas wie einen Kern oder eine stabile Substanz. Aber so ist es nicht. Eine Person definiert sich an jedem Ort, zu jeder Zeit, in jedem Moment und in der Interaktion mit anderen Personen situativ immer wieder anders. Schulze bezieht sich hier auf die Musikwissenschaftlerin Anahid Kassabian. »Identität«, schreibt sie, »findet sich nicht in einem einzelnen Subjekt, eher findet sie sich als Strom durch ein Feld, welches sich unaufhörlich, je nach den Umständen, in unterschiedliche Formen und Umrisse verwandelt.«
»Leser*innen von Autor*innen zu unterscheiden, so essenziell dies für die Schreib- und Veröffentlichungskulturen der letzten Jahrhunderte war, ist nun nutzlos.« (Holger Schulze)
Identität ist also eine Performance. Aus dieser bilden sich die unterschiedlichen Formen und Umrisse der Persona. Schulze erklärt: »Die Textpersona umfasst alles, was wir situativ schreiben, dabei natürlich unterschieden wiederum in ganz viele verschiedene Schreibsituationen.« Diese Persona entsteht im Moment des Schreibens. »Die empirische Person, der wir dann begegnen können, hängt dann jeweils vom situativen Kontext ab – und sie kann sich teils radikal von einer Persona unterscheiden, die sich lediglich in einem recht umgrenzten und kontrollierbaren Medium auslebt: etwa einem Tweet, einem Buchkapitel oder Rezensionsartikel.«
Zerstreute Subjektivität
Die von Schulze zitierte Anahid Kassabian meint, dass Personen keine Subjekte sind. Sie sind zerstreute Subjektivität. @tony_baumann ist also eine Art selbstfiktionalisiertes lyrisches Ich, die Facette einer zerstreuten Subjektivität. »›Ubiquitäre Literatur‹ ist zugleich eine Lese- wie auch eine Schreibweise«, meint Schulze. Denn: »Indem ich die vorüberfliegenden Texte der ubiquitären Literatur konsumiere, sie teile, kommentiere, vielleicht leicht bearbeite, anpasse und damit spiele, bin ich unversehens schon ein Akteur, ein Autor, der an der ›ubiquitären Literatur‹ mit- und sie somit weiterschreibt.«
»Die Unbekannten schreiben an dir mit.« (Holger Schulze)
Schulze schließt sich dem Subjektbegriff Kassabians direkt an. »Die Menge der Unbekannten, die in unserem Erleben und Denken mitwirken, ist stets nahezu unendlich groß, auch wenn wir uns selbst einer Genialitäts- und Individualitätsillusion gerne hingeben mögen.« Schulze zitiert nochmal Kassabian: »Die verstreute Subjektivität wird durch unsere Reaktionen auf kulturelle Handlungen konstruiert – auf Sprache, Musik, Fernsehen und dergleichen …« Auf Twitter geschieht das durch Likes, durch Retweets und durch die Kommentare. Es geschieht durch die Übernahme und Veränderung von Tweets. Soziale Medien bauen auf diesem Prinzip auf. Holger Schulze meint: »Allein durch eine Reflexion dieser vielen Unbekannten wird auch klar, dass stumme und unterdrückte, verdrängte und bekämpfte Stimmen ebenso mitschreiben – und es nun mehr und mehr auch möglich geworden ist, diesen Stimmen zu lauschen, sie ernst zu nehmen, sie anzunehmen und ihnen viele Leser*innen zuzuleiten. Es ist das demokratisierende und antielitäre Ferment in den Möglichkeiten der Netzpublikation und so auch in der ›ubiquitären Literatur‹.«
»Ubiquitäre Literatur ist dumm. Das ist kein Makel oder Tadel, sondern eine Auszeichnung.« (Holger Schulze)
Die Literatur in Buchform ist deswegen aber noch lange nicht tot, so Schulze. »Sie lebt ja mehr denn je«, meinte er. »Streichquartette und Sonette, Stillleben und allerhand andere Erscheinungsformen, Formate und Genres der Künste existieren ja auch immer noch.« Doch: »Mir scheint aber, dass besonders die Niedrigkeit, Banalität und Dummheit der kleinen Partikel im Netz sie dazu prädestiniert, tatsächlich zu überdauern: Sie sind charakteristisch, genuin und repräsentativ für die Künste, das Erleben, die Artefakte in diesen Jahren.«
Link: https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/ubiquitaere-literatur.html