Die Zukunft musste anders aussehen als die Gegenwart und die Gegenwart sah immer anders aus als die Vergangenheit. Mit der neuen Parteiführung wurde in der Sowjetunion stets eine neue Architektur postuliert. Der Neoklassizismus zur Zeit Stalins löste die Avantgarde der Zwanziger-Jahre ab – zu »bourgeois«. Chruschtschow veranlasste dann die baukulturelle Entstalinisierung und setzte auf eine radikale Modernisierung gemäß dem Motto »besser, billiger und schneller«. Zu grau? Ja. Zu trist? Definitiv. Doch was folgte darauf?
Der in Frankreich lebende Publizist und Fotograf Frédéric Chaubin bereiste zwischen 2003 und 2010 die entlegensten Regionen der ehemaligen Sowjetrepubliken und begab sich auf die Suche nach den spät entstandenen Sowjet-Bauten. Zu sehen sind seine Entdeckungen nun in einem prachtvollen Band, der den verspielten Titel »CCCP – Cosmic Communist Constructions Photographed« trägt. In Anlehnung an den vielfach ersehnten Weltraum zeichnen sich die gesammelten Bauwerke durch eine ungeheure Formenvielfalt aus. Für Chaubin »ästhetische Außenseiter in einem Meer von Grau«.
Doch wie war das möglich, mussten sich doch die Architekten bis ins Letzte den Vorgaben der Parteiführung unterwerfen, galt doch als das einzig Kreative an der Kunst die Zensur selbst? [1] Chaubin formuliert zwei Hypothesen: Erstere geht von der Trägheit und Lückenhaftigkeit der Maschinerie aus, wofür die großteils periphere Lage der Bauwerke an den Grenzen zu Polen, dem Kaukasus und dem Schwarzen Meer spräche. Wahrscheinlicher aber ist, dass es sich um gezielte Förderungen zur Aufpolierung des nationalen Images handelte. Der Wettstreit mit den USA fand eben nicht nur im Weltraum statt, sondern manifestierte sich auch auf dem Bausektor, der sich wiederum Motiven aus der Raumfahrt bediente.
Einbeziehung nationaler Stile
Aber es wurde nicht nur nach Westen geschaut, auch das »innere Ausland« gewann in den späten Siebzigern an Bedeutung. Wieder, anders als 1934, gilt die Doktrin, die Architektur müsse »national der Form und sozialistisch dem Inhalt nach« sein. Die baltischen Länder, die in der Zwischenkriegszeit eine eigenständige Moderne auf hohem Niveau erlebt hatten, profitierten von der geographischen Nähe zu Skandinavien. Besonders hervorzuheben sind die zentralasiatischen Länder. Sie wurden zur Zeit Stalins weitläufig ihrer historischen Bausubstanz beraubt, nun sollte das orientalisch-islamische Erbe wieder aufgegriffen werden. Monumentale und dekorative, betonierte und keramikverflieste Elemente kulminierten in irrwitziger Weise in Plattenbauten, die nach Vorbild orientalischer Stadtmodelle angeordnet waren. Dieser Retraditionalisierung ging aber nicht nur laute Kritik an der sich endlos wiederholenden Monotonie voraus, auch das Selbstverständnis, sich gegenüber dem sowjetischen Zentralstaat zu behaupten, wuchs zunehmend. Demnach müssen sich die beiden Hypothesen nicht widersprechen. Vielleicht weiteten sich die Spielräume, während gleichzeitig Architekten beauftragt wurden, die mit der zuvor erwähnten Doktrin »umzugehen« wussten. Selbsterneuerung im Sinne von »seht her, was wir gefunden!«.
(G. Tschachawa, S. Dschalaganija, T. Tchilawa, W. Klinberg) Tiflis, 1974
Ausweg Zukunft
Boris Groys vermutet gerade im Blick von »außen« ein gängiges Missverständnis innerhalb der Kunstkritik. Oftmals würde nicht unterschieden zwischen denen, die die Vorgaben offensiv vertraten, und denen, die abweichende Vorstellungen durch die Berufung auf die Vorgaben zu legitimieren versuchten. Das einzig Bedauernswerte an dem Band ist, dass sich darin keine Interviews oder Beiträge mit damaligen Architekten finden. Konformistisch oder nonkonformistisch (wahrscheinlicher), ihr utopisches Formenvokabular ist so originär wie die von Chaubin zusammengetragenen Geschichten. In Kasan beispielsweise mussten zuerst die Architekten den UFO-förmigen Zirkusbau quasi als Versuchskaninchen betreten. Erst dann folgten die offenmündigen Funktionäre. Schön auch das einem Autobahnkreuz nachempfundene »Ministerium für Autobahnen« in Tiflis. Georgien ist bis heute frei von Autobahnen.
Chaubin beschreibt das, was er vorgefunden hat, als »Orwell’sches Universum«. Wohin auch ohne ein »Außen«? Wenngleich dieses Universum den Massen keine blühende Gegenwart bieten konnte, eine blühende Zukunft war versprochen. Die Fotografien knüpfen an diese Utopie an und unterstreichen den fiktionalen Charakter, indem sie die Architektur von ihrem Hintergrund loslösen. Vollkommen autark und abgehoben, außer Zeit und Raum, meist menschenleer. Und finden sich vereinzelt Menschen wieder, treten sie dennoch nicht in Dialog mit den Bauwerken. Selbst die Landschaft ordnet sich unter, sie ist ja auch nur eine irdische, während die Bauten auf den Weltraum verweisen. Die Architektur lässt den Zerfall der UdSSR hinter sich – zu gegensätzlich gestalteten sich die imaginären und die realen Räume des Sowjetimperiums.
[1] Groys, Boris: Die gebaute Ideologie. In: Noever, Peter (Hg.): Tyrannei des Schönen. Archtitektur der Stalin-Zeit. München: Prestel-Verlag, 1994, S. 15
Frédéric Chaubin: »CCCP – Cosmic Communist Constructions Photographed« Köln: Taschen 2011, 312 Seiten, EUR 39,99