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Literarischer Heimatsound – permanent am Ziel vorbei

Ein alles umfassendes Gefühl der Fremdheit und fehlendes Zuhause reizen unzählige Autor*innen an, sich auf die Suche nach »Heimat« zu begeben. Der Einblick in die Gegenwartsliteratur kann als gute Begleitung bei diesem Heimkommen gelten. Sei das ein Ort, Mensch oder eine Erinnerung …

Scheinbar lassen sich die Gegenwartsliteratur, ihre Autor*innen und Protagonist*innen nach wie vor der »lost« Generation zuordnen, deren Heimat verloren sei und die sich entwurzelt fühlen. Die sich endlos ziehende Thematik steht im Mittelpunkt bei Saša Stanišić, Dina Nayeri, Claire Hajaj oder am Rande in Werken von Dörte Hansen, Robert Menasse u. a. Stimmt das aber? Wieso kann unsere Gesellschaft ihr Lebensboot nicht bequem anlegen? Versuchen wir gemeinsam die »Heimaten in der Erinnerung und Erfindung«[1] auszufabulieren.

Wie jede Melodie aus jeweiliger Tonfolge besteht oder Farben eine bestimmte Temperatur zugeschrieben werden kann, variiert auch das Konstrukt »Heimat/Herkunft«. Existenzielle Fragen (Identitätsstress, Unterwegssein, Zugehörigkeitskitsch, Fremdsein u. a.) als Teil unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft finden ihre Erledigung durch die addierende Kraft der Geschichten und der Sprache. Da die geographische Verortung (Landesgrenzen, -existenz), Gene, Ahnen und politische Ansichten nicht immer entscheidend sind, bestimmt unsere Gegenwart anhand wiederkehrender Erinnerungen, des Glaubens an alte Ideale unsere Herkunft (Vergangenheit) und unsere Zukunft. Solange die wesentlich(st)en Identitätswerte gepflegt werden, existiert unsere Heimat und somit auch die Herkunft.

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Heimat als Mensch mit großem Herzen

Ganz heftig und aufschlussreich definiert Horst Evers die Heimat als etwas Vertrautes in seinem Kriminalroman »Der König von Berlin«: »Jemand, der dieselbe Sprache zu sprechen schien. Wahrscheinlich immer noch ein Arsch, aber immerhin ein vertrauter Arsch, besser als nichts.« Um die Entfernung von dem natürlichen Zustand zu überwinden, benötigt man innere sowie äußere Akzeptanz, z. B. jemanden als sein Zuhause zu akzeptieren. Deshalb ist noch bei vielen Autor*innen die verbreitetste und die einzig legitime Entscheidung beliebt, dass die Familie alles sei, dass sie sich wie die Haut eines Reptils erneuere und bestehen bleibe[2]. Ganz offenkundig fühlt das jeder von uns?!

Heimat als süß-bittere Zufälle

Mittlerweile ist der Zugehörigkeitskitsch (ethnische Herkunft, territoriale Begehrlichkeit, religiöse und moralische Überlegenheit) aus unserem Leben nicht wegzudenken. Heimat sei Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert habe. Laut Stanišić ist jedes Zuhause ein zufälliges. Die verschiedenen Konstellationen des Konstrukts »Heimat/Herkunft« werden oft diktiert: undenkbare Kriege, verlorene Souveränität, Landesgrenzen des Staates u. ä. Die Opferrolle vermeiden und somit Glück haben nur diejenigen, die den Zufall beeinflussen können: das Zuhause nicht in der Not, sondern aus freiem Willen verlassen und sich geographische Wünsche erfüllen.

Heimat als Feier der Vergangenheit im Heute

Heimat ist kein Ort, sie ist Erinnerung[3]. Da das nur eine zerbrechliche Idee sei, die geschützt werden muss, ist das Tempus eine der Erfüllungsbedingungen und der Anspruch auf Legitimierung des multiperspektivischen Konzepts »Heimat/Herkunft«. Das Erlebte brennt immer in uns und diesen Ballast kann niemand loswerden. Hansens Metaphorik zufolge klänge das folgenderweise: Man hörte das Atmen von dreihundert Jahren und atmete mit, als gäbe es kein Ende. Die entschlüsselnde Rolle spielt dabei die eigene Spurensuche heutiger Autor*innen sowie der Leser*innen und besonders die Eigenschaft, nicht nur zeitliche oder geographische Entfernung(en) zu messen, sondern vorwärts- und rückwärtsgehen zu können, das Vorwärts- und Rückwärtsreisen zu üben[4]. Das, was uns zurück in die Vergangenheit zieht, muss möglichst heilend wirken, d. h. wohldosiert, kontrolliert und möglichst unschmerzhaft, nicht so tief nostalgisch oder hoffnungslos duftend sein.

Photo by Gio Mikava on Unsplash

Aufbruch in die imaginierte Heimat

Die andauernde Verwirrung mit dem Wort und Konzept »Daheim« (»Heimat«) ist ganz gerecht. Die Migrationsliteratur verbindet damit weitere Varianten und Inkarnationen. Stanišić schreibt: »Das Unterwegssein ist mal Last und mal Geschenk. Heimat ist dort, wo man sich am wenigsten vornehmen muss.« Ablenkend wirken dabei die Zwischenwelten, die wie unser Zuhause aussehen. Nach Dina Nayeri beharren viele hartgesottene und weltläufige Menschen auf ihren Standpunkten und versuchen, egal, wo sie landen, Wurzeln zu schlagen, selbst wenn der Boden Gift für sie ist. Oder die das Weglaufen als lange Reise schildernden Flüchtlinge, die sich aus Angst, nach vorne und nach hinten zu schauen, beharrlich festklammern.

Wurzel der Wurzel deiner selbst

Das Unausweichliche des Diskurses und des Schicksals ist ein weiter Bogen von Kontexten und Definitionen. Wut, Scham, Sprache, Angst, Freude, Freiheit oder der salzige Geschmack der Tränen? Das alles und vieles mehr könnte unsere Heimat, unsere Herkunft und unser Zuhause sein. Bevor aber die Geschichte auserzählt wird und bevor wir aus unserer hochfliegenden und ansteckenden Persönlichkeit herausgewachsen sind, muss man etwas Brennstoff für dieses Feuer »Heimat« finden. Nur die Mitläufer*innen leben ohne Drang. Ohne Fetischisierung, vermeintliche Versprechungen und Fantasien macht etwas mehr davon, was vergangen war und was noch gewonnen werden kann. Heimat ist Teil unserer Identität und unseres Ich-Gefühls.

Photo by Leif Christoph Gottwald on Unsplash

Empfohlene Literatur

Hajaj, Claire (2015): »Ismaels Orangen/Der Duft von bitteren Orangen«, München: Blanvalet.

Hansen, Dörte (2015): »Altes Land«, München: Albrecht Knaus Verlag, Hamburg: Mare.

Nayeri, Dina (2018): »Drei sind ein Dorf«, Hamburg: Mare.

Schirach, Ferdinand von (2019): »Kaffee und Zigaretten«, München: Luchterhand.

Stanišić, Saša (2019): »Herkunft«, München: Luchterhand.

[1] Saša Stanišić »Herkunft«

[2] Dina Nayeri: »Drei sind ein Dorf«

[3] Ferdinand von Schirach »Kaffee und Zigaretten«

[4] Dina Nayeri: »Drei sind ein Dorf«

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