Jetzt hat er mich am falschen Fuß erwischt, der Hans Unstern. Ich hab‘ gerade den Wochenendeinkauf erledigt, 50 % überflüssigen Naschmüll gekauft (während alle paar Sekunden ein Kind verhungert), am Rückweg noch zwei Zeitungen geklaut, und nun die Heliumstimme von Unstern mit »Ich schäme mich« aus den Lautsprechern. Dieser versichert, von Tuba, einer Art synthetischer Maultrommel und einem absurden »Yeah« skandierenden Chor unterstützt, mit Nachdruck dass er sich schämt. Sollte ich mich auch, hm. Nämlich auch gleich dafür, dass mir »Kratz dich raus«, das Erstlingswerk des Langzopfträgers total unbekannt ist (die Scham wird durch einen illegalen Downloadversuch noch verstärkt), und dass im Ü1-Feuilleton »Diagonal« parallel gerade eine Sendung über den 26-jährig im KZ Buchenwald an Typhus verstorbenen Jura Soyfer läuft vermindert meine Scham auch nicht gerade. Und schon ist es Unstern gelungen ein Gefühl, das in der männlich dominierten Popbranche nicht gerade en vogue ist, zu thematisieren. Aber was, wenn es sich titelgemäß eh um einen Schwindel handelt, und sich der geheimnisvolle Hans überhaupt nicht schämt und sich angesichts solcher Gedanken ins Fäustchen lacht? Tut er vermutlich auch, denn Unstern ist ein begnadeter Tarner und Täuscher.
Interviews möchte er lieber keine geben (zu intim), dafür lud er in den Räumlichkeiten des Merve-Verlags (bei dem unlängst ein Buch mit diesen unglaublich abgedrehten und dadahaften Unstern-Texten erschienen ist) zu einer Presseperformance, bei der ein Schauspieler mit blau gefärbtem Gelschopf sich als Hans Unstern ausgab, um letztlich Unstern (der wiederum Rainald Götz zitiert) zu zitieren: »das wäre die Idee, (??) wenn das Buch selber die Antworten auf alle möglichen Interviewfragen geben würde«. Da versucht einer als Person gänzlich hinter seinem Werk zu verschwinden, was ihn gerade deshalb noch interessanter macht. Nur wie klingt »The Great Hans Unstern Swindle«? Angeblich wesentlich aufgekratzter als das Debüt, in »Entweder & Oder« etwa klingt dieser Ludwig Wittgenstein des Pop (»Reden ist Plastikgold, was aber ist Schweigen?« ) teils wie Schorsch Kamerun über megahallende Drums, dazwischen, als Refrain »Woher kommt diese Einsamkeit?« in Schlagermelodie.
Und dann beinahe Rap in »Mit schwarzen Lippen sitzen wir hinten« auf Stakkato-Klavier, und immer wieder diese hohe Stimme, die mich schmunzeln lässt. Nicht so radikal gebrochen sind die folgenden Stücke, Geigen und Frauenstimme(n) steigen ein. »Unbenannte Datei« ist ein Sprechstück mit Kinderstimme auf grandioser instrumenteller Grundierung, »Hülle« und »Posterboy« zaubern Slide-Bluesgitarren aus dem Köcher. »Ein Schwarm Buchstabenmücken«, wie es an einer Stelle heißt, kommt mit »Bea Criminal« mit einer Prise Eighties-Keyboard und einem für Unstern-Verhältnisse hymnischen Refrain, zur Ruhe. So verwirrend das gesamte Album in angenehmer LP-Länge auch ist, die letzten Worte lassen keine Fragen offen: »Klaut dieses Album nicht online / Klaut es im Kaufhaus / Hinterlasst weniger Spuren«. Und schon wieder schäme ich mich.