Der Verein TEMPORA von Veronika Glatzner hat es sich zum Anliegen gemacht, Theaterprojekte in strukturell vernachlässigte Stadtteile zu bringen. Schauspielerisch werden Impulse zur theatralen Nutzung des urbanen Raums gesetzt, strukturschwache Grätzel vorübergehend durch darstellende Kunst belebt. Die Zwischennutzung von leerstehenden Ladenlokalen soll auf Veränderungen im Stadtbild aufmerksam machen. Mit dem aktuellen Stationentheater »HABENICHTSE!« werden digitale Transformationsprozesse, die unser Lebens-, Arbeits- und städtisches Umfeld prägen, in den analogen Raum übersetzt und künstlerisch untersucht. Textauszüge sowie ein Interview mit Veronika Glatzner illustrieren ironische Perspektiven auf eine mögliche Ökonomie des Teilens.
Um ein möglichst unverstelltes Eintauchen in die Tauschökonomie sich frei gruppierender Gedanken zu ermöglichen, verzichtet dieser Artikel auf herkömmlich strukturierende Maßnahmen. Vor den Leser*innen öffnet sich somit gerade der Vorhang und gibt den Blick frei auf ein unüberschaubar weites Thema, in dem einzelne Aspekte wie schwere Findlinge unverbunden in der Ebene liegen.
Veronika Glatzner: Als freie Schauspielerin, nach meiner Zeit als Ensemble-Mitglied des Wiener Schauspielhauses, habe ich gemerkt, dass ich viele junge Autor*innen im Schauspielhaus kenne, die ich für talentiert halte und die zu wenig Arbeit haben. Ich habe 2013 bis 2015 unter der Regie von Paulus Manker gespielt, unter anderem in »Alma – a show biz ans Ende« von Joshua Sobol, und kannte dadurch die Form des Stationentheaters ganz gut. Ich wollte den Zuschauer*innen die Entscheidungsfreiheit geben, sich Stücke mehrfach anzusehen oder auch nur ganz kurz zu verweilen – es in die Hand der Zuschauenden legen, zu wählen. Ich schätze diese Direktheit, diese Unmittelbarkeit, wenn das Publikum ganz nahe an einen Schauspieler herankommen darf und kann. Ich spiele es gerne und ich sehe es gerne. Kurz noch zum Namen des Vereins. Der Verein heißt TEMPORA aufgrund der temporär bespielten Räume. Der komplette Name lautet ja TEMPORA – Verein für vorübergehende Kunst. Diesen doppeldeutigen Titel verdanke ich Helmut Jasbar, mit dem ich einmal über die Idee dieses Vereins gesprochen habe.
»Schließlich, sagte unsre Chefin, sei ein Stau – zunächst mal wertungsfrei besehen – eben Sinnbild für die Wirtschaft, also’s Leben, worin alle dran Beteiligten geringstenfalls die Grundanwesenheitsgebühren abzuleisten hätten … Ja, ein solch ein Stau, so unsre Chefin, sei wenn schon kein Glücksfall, immerhin zumindest doch ein opportunes Fenster, worin man, da man schon eben hier sei, sich nicht unkritisch, so doch gemäß dem Rahmen, fair und reflexiv den eignen kapitalen Leistungsdefiziten widmen könne, um sie, ohne dass, damit das klar sei, sich gleich arbeitsrechtlich Konsequenzen draus ergäben, flugs aus dem Sozialverkehr herauszuziehen … Es gelte also, sagte unsre Chefin, ganz gemäß dem freien Spiel der Kräfte, hier mit Selbstinitiative, Körpereinsatz, Effizienz und Mut zum Wagnis wie ein Nutztier aus sich selbst restlos das eigne Kapital herauszuschlagen, denn nur wenn ein jeder Stauteilnehmer stets das eigne Lenkrad effektiv im Griff zu halten wisse, könne ja das Potenzial des Staus als Übereinheit gänzlich erst erstrahlen … Und also, um dann, sagte unsre Chefin schnell, noch anders allgemein und prinzipiell Gesagtes neu zu präzisieren, es geh’ ihr nicht darum, Verständnis, Konsens, Likes zu generieren, sondern, im besten Fall, der Wirtschaft ein humaneres Antlitz zu verleihen … Und, bevor sie es vergesse, seien wir ja, so unsre Chefin, keineswegs Familie, sondern, dicker noch als Blut, einander monetär verbunden …«
– David Frühauf, »Die Beteiligten«
Veronika Glatzner: Ich habe vor meinem Schauspielstudium Soziologie studiert. Mich hat Urbanität und Stadtentwicklung sehr interessiert und so habe ich mich auf das Thema Stadtsoziologie spezialisiert. Deshalb wollte ich auch diese beiden Interessen Soziologie und Schauspielerei verknüpfen. Ich suche daher auch nach wie vor den Austausch mit Stadtforschern, die ich noch von damals kenne. Oliver Frey von der TU Wien hat mir bei der Themenwahl geholfen. Bei der ersten Produktion auf TEMPORA »on DIS PLAY – Theatrale Formen von Transparenz« ging es um die Thematik der Transparenzgesellschaft. Dieses Mal, für die Konzipierung von »HABENICHTSE!«, war ich im Vorfeld bei zwei Expert*innenrunden zum Thema Smart Cities. Die Ressourcenschonung und die Digitalisierung waren für mich dabei zwei spannende Komponenten. Und so kam ich zur Sharing Economy und Initiativen, bei denen Ressourcen geteilt werden, auch weil ich ursprünglich ein Theater über die Grenzen des Wachstums machen wollte. Ich habe den beauftragten Autor*innen offengelassen, welchen Aspekt sie herausnehmen wollen, aber in den Gesprächen habe ich schon hervorgehoben, dass mich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema interessiert. Initiativen starten zum Teil idealistisch, werden dann aber kapitalisiert und eine weitere Facette des kapitalistischen Systems, von diesem einverleibt. Am Ende schlagen große Unternehmen daraus Profit. Das ist der rote Faden der fünf Monologe: die Sehnsucht des Einzelnen, sich zu vergemeinschaften, wieder eine reale, authentische Begegnung zu erfahren – abseits einer total digitalisierten Knopfdruckwelt. Man will sich wieder im Wohnumfeld treffen und wirklich etwas von Hand zu Hand austauschen, die Menschen kennenlernen.
»ich opfere die gewissheiten meines lebens meines alten lebens
das vor mir verborgen war
und erst jetzt
wo ich so mitten in der scheiße sitze
wird mir klar
wie tief
wie weit diese gewissheiten noch in mich
in mein hier und jetzt geragt haben
obwohl einer schon längst vergangenen untergegangenen welt angehörig
aber sie haben mich gehalten
wie ein unsichtbares korsett
das mich aufrecht durch die welt gehen lässt das nun unter dem gebuckel vor den stornierungsbedingungen
zerbrochen ist
ich habe mir immer etwas auf meine herkunft eingebildet
ich hatte immer einen rückzugsort
in meinem inneren
der aus dieser anderen welt bestanden hat
ich konnte das leben
das ich hier lebe
leben und gleichzeitig ablehnen
diese unverbindliche einsamkeit
diese kette von unausgesprochenen beziehungen
von halbherzigen missverständnissen
ich dachte irgendwann würde ich in den kreis meiner familie zurückkehren
wenn ich alle freiheiten ausgekostet hätte«
– Volker Schmidt, »нет проблем«
Veronika Glatzner: Man hat ja als Besuchender nur eine gewisse Aufnahmekapazität. Anscheinend war es bei »on DIS PLAY« so, dass aufgrund der komplexen Themen zur Transparenzgesellschaft die Leute nach eineinhalb Stunden relativ voll waren. Ich wollte bei »HABENICHTSE!« wieder verschiedene Positionen an einem Abend und so habe ich überlegt, wie viele sich an einem Abend ausgehen, wie viele man verkraftet. Eigentlich wollte ich dieses Mal ausschließlich neue Autor*innen, habe dann aber auch David Frühauf wieder gebeten, einen Text zu schreiben. Und Ferdinand Schmalz, der damals einen Text für »on DIS PLAY« geschrieben hat, den kann man ja wahrscheinlich gar nicht mehr bezahlen. Die drei Autorinnen Magdalena Schrefel, Claudia Tondl und Grischka Voss sind mir zum Teil von anderen Autor*innen empfohlen worden.
»Ich wünschte, man würde den Straßensperrmüll wieder legalisieren und internationalisieren. Ich wünschte, man würde gebrauchte Dinge wieder wertschätzen und weitergeben dürfen an Menschen, die sie dringend brauchen. Ein Hoch auf den Straßensperrmüll, die schönste und sinnvollste Besitzwechsel-Form, die ich kenne!«
– Grischka Voss, »willgeben«
Veronika Glatzner: Ein großer Unterschied zwischen den drei bisherigen Arbeiten von TEMPORA, das Stationentheater »on DIS PLAY«, das von 2014 bis 2016 in drei verschiedenen Bezirken gezeigt wurde, den Theaterabend »K’s Frauen« von 2016 und das aktuelle Stationentheater »HABENICHTSE!«, ist der Umstand, dass »K’s Frauen« mein Regiedebut war. Bei »on DIS PLAY« und »HABENICHTSE!« habe ich die künstlerische Leitung innegehabt. Ich habe auch diesmal wieder sehr viel abgegeben, ich vertraue Steffen Jäger, der die Regie macht, und Nanna Neudeck und Christoph Fischer bei der Ausstattung und habe sie einfach machen lassen. Für die Auswahl der Beteiligten und für die Koordination war vor allem ich verantwortlich. Bei »K’s Frauen« war das ganz anders, da habe ich auch inhaltlich und formal sehr viel entschieden. »HABENICHTSE!« ist vom Konzept und der Form her gleich wie »on DIS PLAY«, nur der Inhalt ist ein anderer. Es gibt aber schon auch einen Unterschied. Damals bei »on DIS PLAY« haben wir nicht nur in Leerständen gespielt. Das ist ja auch das schwierige an diesem Projekt, dass wir Leerstände zur Verfügung gestellt bekommen. Bei »on DIS PLAY« waren das auch Geschäfte, die in Betrieb waren, ein Back-Foyer, ein Autohaus, ein Schuhgeschäft und so weiter. Damals war alles ein bisschen roher und unaufwendiger. Es gab viel weniger Ausstattungselemente. Es stand der Text im leeren Raum mehr im Vordergrund, dieses Mal sind kleine Miniatur-Theaterwelten entstanden.
»eine Plattform ist ein Stück Arbeitswelt. sie fußt immer auf einer Idee von Umverteilung auf Enthusiasmus und der Überzeugung, dass man die Welt teilbar machen kann. vielleicht sogar besser, das spürt man
eine Plattform ist ein Stück Internet, das man bei sich im Leben hat. es mag Plattformen geben
für Wohnungen, Autos, Tiere und Dienstleistungen. es gibt aber keine Plattform außerhalb des Internets das sieht man
eine Plattform ist ein Dazwischen. ein Kraken mit riesig langen Armen die aus dem Internet rauslangen, in unsere Leben reinragen. genau so muss man sie auch darstellen
und irgendwann kommt so eine Plattform meist ins Ungerade, verliert sich in Richtung Profit.
jetzt wackelt die Plattform, wackelt so vor sich hin und auf ihr die Spieler, die Konsumentinnen, die Darsteller, sodass man sich während des Sprechens niemals auf das Gesagte verlassen kann«
– Magdalena Schrefel, »Familienunternehmen«
Veronika Glatzner: Die Kritik an Sharing Economy wird oft auch mit dem Begriff Plattform-Kapitalismus beschrieben. Und ich denke, dass ich zu einer Generation gehöre, die das sehr häufig nutzt. Sei es bei willhaben, Airbnb oder auch ganz aktuell im Rahmen der Kinderbetreuung. Wo ich noch nicht so viel Kontakt hatte, das sind diese kleineren Initiativen. Das würde mich eigentlich interessieren, ich habe da aber auch eine gewisse Scheu und sie sind mir einfach auch noch nicht so begegnet. Andere Phänomene wie Uber meide oder boykottiere ich eher. Beim Monolog über Airbnb von Volker Schmidt beschreibt er genau diesen Konflikt, dass aus der Not heraus eine Wohnung vermietet werden muss – gleichzeitig kommt die Person in Konflikt mit familiären Werten der Gastfreundschaft, die für sie auch essenziell sind. Durch diese Plattformen sind für viele Menschen Dinge möglich geworden, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Aber trotzdem nagt sich dieses Profitdenken dann durch.
»ein gemeinsamer Rhythmus der kann schon sehr viel beitragen zu so einem Wir-Wohl-Gefühl … Nachbarfünfsterninnenbewertungssong nach der Melodie von Malvina Reynolds Little Boxes:
Viele Sterne hier im Grätzel
Viele Sterne sind sehr nachbarschaftlich
Viele Sterne hier im Grätzel
Viele Sterne kannst du zähln
Da sind drei nur da sind vier schon
da sind fünf gar das ist super gut
Und sie leuchten alle nachbarschaftlich
Und du kannst sie alle sehn.
An den Türen in den Fenstern
die Sterne sind wirklich überall
weil sie uns dabei helfen
aufeinander zuzugehn
Du bist freundlich und höflich
im Grätzel kennt jeder dich
Bist bewertet: super nachbarschaftlich
Und so können wir dich sehn.
Unser Grätzel attraktiver
gestalten ist unser Ziel
den Gemeinsinn zu verbessern
miteinander gern zu teiln
ist in unsrem Interesse denn
das Schern als ein solidarisches
gemeinschaftliches Kehren
hilft beim Feedback ungemein.
So verteilen wir gern Sterne
nach unsrer Verbewertkultur ja
wir sehn das wirklich nachbarschaftlich
all die Sterne sind sehr schön
Da sind drei nur da sind vier schon
da sind fünf gar das ist super gut
Und sie leuchten alle nachbarschaftlich
Und du kannst sie alle sehn.«
– Claudia Tondl, »Nachbar*innen«