Photo by Syd Wachs on Unsplash
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Nachsommerhäppchen: Klassikerlektüre für letzte Ferientage

Von Virginia Woolf über Zadie Smith bis hin zu W. F. Harvey und Wolfgang Herrndorf – fünf (spät-)sommerliche Literaturtipps, die sich zur Not auch im Früherbst genießen lassen.

Die Langsamkeit und sachwalterische Detailversessenheit von Adalbert Stifters Biedermeier-Klassiker »Der Nachsommer« ist zugegebenermaßen nicht für jeden was. Obwohl den Stahlmägen unter den Spätsommer-Leseratten Stifters harter Brocken unbedingt ans Herz gelegt werden soll: Die folgenden fünf durchaus gehaltvollen Häppchen mit nachsommerlichen Motiven lassen sich schon an einem heißen Sonntag, an einem verlängerten Badewochenende oder der letzten entspannten Ferienwoche zwischen nassen Handtüchern und Sonnencreme verschlingen. Und noch viel wichtiger: Während die Schatten auf dem heißen Sand und den vertrockneten Rasenflächen langsam wandern, treiben es diese Klassiker Schweißtropfen um Schweißtropfen ziemlich schnell auf die literarische Spitze. Für Eis/Pommes und Cocktailpausen (Cliffhanger gut timen!) darf natürlich unterbrochen werden.

In Virginia Woolfs Seeluft-Klassikern »Die Wellen« und »Zum Leuchtturm« erstrahlt die Welt – durchsetzt von lustvoller Wehmut und dem dunklen Unterton des Traumas – in voller Schönheit. Viel melancholischer, nobler und weniger kitschig als bei so manchem zeitgenössischen Schöngeist. (Peter Handkes inzwischen weltfremd wirkende Obstwiesenepik etwa konkurriert nur schwerfällig mit der frischen Brise dieser literarischen Moderne – britische Seeluft schlägt hier eindeutig Poseidons Wellen und Äolus’ Winde. #Homer #Odysseus) Das koloniale Erbe jenes Empires, das, während Virginia Woolf lebte, noch in voller Blüte stand, wird von der britisch-jamaikanischen Autorin Zadie Smith in »Zähne zeigen« thematisiert. Die beiden Weltkriegskameraden Archie und Samad mit ihrer Glückssuche im London der frühen 1990er verkörpern im ganz Kleinen die gewaltigen kulturellen Kontinentalverschiebungen, die zwischen einer viktorianischen Klassengesellschaft und den hybriden Identitäten des neuen Millenniums stattgefunden haben. W.F. Harveys chilly Schicksalsparabel »August Heat« veranlasst einen vielleicht dazu, die Hitze-gemarterten Mitbürger*innen ganz im Sinne der Corona-Regeln auf sicherem Abstand zu halten. Schließlich hat so mancher unter solchen Bedingungen schon die Kontrolle verloren. »In Plüschgewittern«, Wolfgang Herrndorfs Road-Trip nach Berlin, ist schließlich genau der richtige Happen für alle, die sich nach Strand oder Almidylle schon wieder nach der Großstadt sehnen.

Virginia Woolf: »Die Wellen«, S. Fischer, 240 Seiten, 12,00 Euro

Link: https://www.fischerverlage.de/buch/virginia-woolf-die-wellen-9783104904924

#1 und #2 – Virginia Woolf: »Die Wellen« und »Zum Leuchtturm«
Kategorie: Nostalgische Brise für ein literarisches Wochenende am Meer.

Adeline Virginia Stephen, Spross der britischen Oberschicht, verbrachte viele Sommer ihrer teils wohlbehüteten, teils traumatischen Kindheit in Talland House, einem traumhaften Anwesen mit Blick über die Bucht von St. Ives in Cornwall. Die Sommer in diesem Haus, das später zu ihrem Leidwesen verkauft wurde, müssen berauschend gewesen sein. Schließlich gönnte sich auch die erwachsene Virginia Woolf im Laufe ihres bewegten Schriftstellerinnenlebens viel Zeit in verschiedenen Domizilen an der Küste Cornwalls. Auch literarisch kehrte die frühe Feministin immer wieder in diese Kindertage aus Meer, Licht, Wind mit den vielen viktorianisch gekleideten Feriengästen zurück.

Virginia lebte als Kind und junge Frau in ständiger Gesellschaft ihrer drei Geschwister (darunter die Malerin Vanessa Bell) und vier Halbgeschwister. Allesamt tyrannisiert von ihrem scheinbar übermächtigen und von allen bewunderten Vater, dem Historiker Leslie Stephen. In »Zum Leuchtturm« und »Die Wellen« ist es jeweils dieser Blickwinkel eines von außen unbeschwert wirkenden und in Wahrheit so komplizierten Kinderlebens mit seinen Spielen und Ritualen, aus dem sich die Autorin dem großen Thema der literarischen Moderne widmet: der Zeit. Der vergehenden Zeit. Talland House und der Blick zum Meer – sie gehören ja der Vergangenheit an. »Die Wellen« erzählt diese Vergangenheit mit herzzerreißender, beinahe zwanghafter Gegenwärtigkeit. Aus einer gemeinsamen Idylle herausgerissen werden die Kinder Susan, Jinny, Rhoda, Neville, Louis und Bernard in unterschiedliche Internate verfrachtet und mehr und mehr der gelegentlichen Bitterkeit des Erwachsenenlebens ausgesetzt. In Woolfs zweitem Seeluft-Klassiker »Zum Leuchtturm« ist es eine kompromisslose Vergangenheitsform, in welche die schmerzhaft gegenwärtigen Erinnerungen gefasst sind. Eine rasende Zeigerbewegung durch die Geschichte eines Küstenhauses und seiner Bewohner*innen. Und zudem eine Abrechnung mit der traumatisierenden Vaterfigur.

Schlägt man »Die Wellen« oder »Zum Leuchtturm« nach einer in der Sonne dahingedösten halben Stunde an einer beliebigen Stelle auf, wird Woolfs assoziative Sprache unmittelbar aufgesogen. Sie vermittelt ein Staunen über die sinnliche Potenzialität der Welt, wie es angeblich nur Kinder und Irre zu Stande bringen.

Virginia Woolf: »Zum Leuchtturm«, S. Fischer, 240 Seiten, 11,00 Euro

Link: https://www.fischerverlage.de/buch/virginia-woolf-zum-leuchtturm-9783596120192

#3 – Zadie Smith: »Zähne zeigen«
Kategorie: Wochenendlektüre für Vielfraße, entspannte Ferienlektüre für kritische Genießer.

Zadie Smiths Anfang der Zweitausender frenetisch gefeierter Debütroman »Zähne zeigen« liegt trotz sozialkritischem Gewicht und Ferienüberlänge beim Schwimmen nicht allzu schwer im Magen. Das ist jedoch nicht auf mangelnde Dichte zurückzuführen. Sondern tatsächlich eher auf die süffisante Entspanntheit ihrer Prosa. Durch ihren lakonischen Humor und mit Hilfe ihres gigantischen Erzählgeschicks ringt die heute (angeblich als Nachbarin von Daniel Kehlmann) in New York lebenden Britin der Familiengeschichte ihrer beiden gebrochenen männlichen Hauptfiguren Archibald Jones und Samad Iqbal wichtige Perspektiven auf die Multikulturalismus-Debatten der Jahrtausendwende ab. Dass das Buch über die beiden gealterten Weltkriegsfreunde und ihr spätes »Familienglück« dabei gelegentlich durchaus Soap-Opera-hafte Züge annimmt, verzeiht der entspannte Blick durch die Sonnenbrille leicht.

Auch in der an Debatten um Wahrheit und Moral gelegentlich schwer tragenden Gegenwart wirkt Smiths Kleinbürgerepos mit seinen auf ihre Weise tragischen Normalo-Helden Archie und Samad heilsam – dem Pathos des großen globalen Umbruchs, das harte Sachdebatten der Gegenwart allzu leicht mit glibberiger Zukunftssülze zukleistert, nimmt es auf heilsame Weise den Wind aus den Segeln. Ist das nicht schon immer eine der Möglichkeiten der Literatur gewesen – am »Schicksal« der Einzelnen offene gesellschaftliche Debatten anschaulich zu gestalten? Von Smith als süffiger Schluck, abwechslungsreiche Mahlzeit vorgetragen.

Zadie Smith: »Zähne zeigen«, KiWi, 656 Seiten, 12,00 Euro

Link: https://www.kiwi-verlag.de/buch/zadie-smith-zaehne-zeigen-9783462042443

#4 – W. F. Harvey: »August Heat«
Kategorie: Chilly Grusel-Snack für eine schweißtreibende Stunde bis zum nächsten Eis.

James Clarence Withencroft ist ein mäßig erfolgreicher Künstler, der halbwegs seinen Lebensunterhalt mit kleinen Grafiken verdient. Viel mehr erfahren wir nicht von William Fryer Harvey über den bedauernswerten Helden seiner kleinen Schicksalsparabel »August Heat«. Viel mehr braucht es auch nicht, um uns sofort in die gruselig-romantischen Fantasiegefilde eines Edgar Allan Poe oder Alfred Kubin zu versetzen, die auch das Arbeitsgebiet des zeitlebens kränkelnden und 1937 (an einem 4. Juni) recht jung verstorbene Genre-Autors und Arztes Harvey sind.

Die Hitze ist mörderisch an einem 20. August des Jahres 190_ in der Phenistone Road, Clapham. Und die fertige Zeichnung, die dem urplötzlich inspirierten Künstler an diesem Augustvormittag wie von selbst aus dem Bleistift fließt, zeigt schließlich einen überbordend fetten Mann, einen Verbrecher. Ein schändlicher »Fleischberg«, der beinahe unter seinem Gewicht kollabiert, als er vor seinem Richter steht und sein gerechtes Urteil erwartet. Mit seiner rätselhaften Zeichnung unter dem Arm sucht der schwitzende Withencroft anschließend auf einem Spaziergang Ablenkung von der Augusthitze. Durch Zufall gelangt er in einen düsteren Friedhofsgarten, der ihm Schutz von der Sonne verspricht. Er findet dort unter seinem Geschäftsschild sitzend »CH. ATKINSON, MONUMENTAL MASON«, wild auf einen Marmorblock einhämmernd, der wohl ein Grabstein werden soll. Verblüfft starrt Withencroft, als dieser sich umdreht, in das Gesicht des schweißgebadeten Steinmetzes: es ist das Gesicht des Mannes auf seiner morgendlichen Zeichnung, die er noch immer bei sich trägt. Doch damit nicht genug. Als sich die Buchstaben auf dem Grabstein langsam unter den Schlägen Atkinsons aus dem Marmorstaub erheben, läuft dem armen Zeichner erneut »ein kalter Schauer den Rücken hinunter«. Der Name auf dem Stein ist seiner. Das Datum seines Todes ist der 20. August. Die Hitze ist erdrückend. »Ausreichend, um einen Mann in den Wahnsinn zu treiben.«

Link: http://gutenberg.net.au/ebooks06/0605761.txt 

#5 – Wolfgang Herrndorf: »In Plüschgewittern«
Kategorie: Wochenendroman für Berlin-Fans. Und für alle, die sich am Strand unerklärlicherweise jetzt schon wieder nach der Stadt, nach Autobahnen und nach urbanem Existenzdruck verzehren.

Der Maler (zwölf Porträts von Helmut Kohl im Stil Alter Meister!) und Schriftsteller Wolfgang Herrndorf tötete sich am 26. August 2013 selbst, kurz vor seinem absehbaren Tod durch einen Hirntumor – ein Sterben, dem er in Form seines große Literatur gewordenen Blogs »Arbeit und Struktur« ein ebenso erschütterndes wie ermutigendes Denkmal setzte. Sein zehn Jahre vorher erschienener Debütroman »In Plüschgewittern« (vgl. Ernst Jüngers »In Stahlgewittern«) ist ein leicht verspätetes Produkt der sagenumwobenen Popliteratur, die die deutsche Literaturszene vor allem in den 1980er- und 1990er-Jahren im Schwitzkasten von Jugendlichkeit, Raves und Tempo festhielt.

Christian Krachts Epochenwerk »Faserland« lässt in Herrndorfs mindestens genauso schmissigem Wochenendbüchlein deutlich grüßen. Herrndorfs Erzählung über die Fahrten seiner um die 30-jährigen, chronisch orientierungslosen Hauptperson zwischen Frankfurt, Hamburg und Berlin, inklusive Exzessen, romantischem Weltekel und der ständigen Bereitschaft zur großen Liebe, ist jedoch literarischer. Das Buch fühlt sich persönlich an. Die Tragik ist authentisch. Wie meist bei Herrndorf ist der Rahmen eine Coming-of-Age-Geschichte. Was in diesem Coming kommt, ist allerdings wenig. Verkracht, zwischen den Fronten von Familie und großer Welt aufgerieben, scheitert die hochintelligente Hauptfigur am Ankommen, am Er-wachsen. Und zwar auf ganzer Linie. Nicht zuletzt bietet Herrndorfs spürbar ausgefeilter »Adoleszenzroman« ein wunderbares Porträt eines angeblich verschwindenden Berlins, Traumziel aller ewig Adoleszenten, voller Studi-WGs, Dachpartys, geheimen Kellerkneipen, promovierenden Irren, berühmten Vollidioten. »In Plüschgewittern« ist eine Außenseitergeschichte, aber eben mittendrin.

Wolfgang Herrndorf: »In Plüschgewittern«, Rowohlt, 192 Seiten, 10,00 Euro

Link: https://www.rowohlt.de/taschenbuch/wolfgang-herrndorf-in-plueschgewittern.html

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