»In den 1930er Jahren war es üblich, dass den Kindern Watschen angeboten und zugeschlagen wurde, schon bei den kleinsten Vergehen. Es ging vielen mit ihren Vätern so«, sagt Alfred Pietsch im griechischen Lokal auf der Wilhelminenstraße in Sandleiten. »Prügeln kann Blockaden auslösen«, wende ich ein, »vielleicht wären Sie sonst ein Künstler geworden.« »Stimmt«, lächelt der 89-Jährige, »ich konnte als Kind so schön singen, dass sie mich zu den Wiener Sängerknaben anmelden wollten. Dort hätte ich Gymnasium und die Matura machen können. Aber die Mutter sagte, ein Künstler in der Familie reicht mir.« Denn sein Vater war in den 1930er Jahren einer der besten Wiener Schrammelmusiker, spielte in der Zehner Marie und musste mit den Gästen trinken. Nicht jede Nacht verbrachte der berühmte Rudi Pietsch zu Hause. Und blockiert wäre der kleine Fredi schon gewesen, denn durch die Schläge entwickelte er eine gewisse Schüchternheit und Furcht Menschen gegenüber.
Heute kennt Alfred Pietsch hingegen keine Angst mehr und kann stundenlange, spannende Vorträge über die Vergangenheit halten, wie vor kurzem in den Räumen von SOHO in Sandleiten in der Rosa Luxemburg Gasse 9, die ehemals einen Raumausstatter beherbergten. Pietsch brachte im Molden Verlag das Buch »Es regnete Hakenkreuze auf Wien« heraus und besucht sehr gerne Schulen und redet mit den Kindern. Beim Griechen zeigt er alte Fotos her. Ein 17-jähriges Kindergesicht unter Haube mit Hakenkreuz, zwei Jahre später mit 19 Jahren, auf einem ähnlichen Foto, sieht er wie ein Dreißigjähriger aus. »So schnell ist man zum Mann geworden im Krieg«, sagt er jetzt. »Der Hitler wartete, bis man den Beruf fertig gelernt hat und dann wurde man sofort eingezogen.« Zwischen den beiden so unterschiedlichen Fotos liegen der Reichsarbeitsdienst in Grünberg in Oberschlesien, in dem die Wiener Jugendlichen »knochenhart« für die Front ausgebildet wurden und die Front in Russland, an der »ich viele Leute sterben gesehen habe, leider. In den Nahkampf musste ich nie, aber ich war Panzerkommandant. Meistens musste ich den Rückmarsch decken. So viele sind zugrunde gegangen auf beiden Seiten«. Er versteckte sich quasi in seinem Panzerturm, hatte einen gewissen Schutz und kriegte nicht alles so direkt mit, was draußen in der Kriegslandschaft passierte. Bis er doch einen »Heimatschuss« kriegte und zurück nach Wien durfte.
Tote Schimmler
NS-Deserteure wurden »Schimmler« genannt, »der ist schimmeln gegangen«, hieß es. In Sandleiten hatte ein Bekannter Pietsch einen Beinbruch beim Fußballspiel angeboten, aber der junge Mann schreckte davor zurück, seinen Körper verletzen zu lassen. Andere nahmen das ambivalente Angebot an: »Einmal sah im Kongreßbad ein Gestapo-Mann eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Jugendlichen aus Ottakring, die alle auf Urlaub von der Front waren, und sämtlich mit Gipshaxen auf der Liege in der Sonne lagen. Der Gestapo-Mann rief sofort die Polizei, ließ diese große Gruppe verhaften und alle wurden im Landesgericht hingerichtet. Nur einer der Jungen wurde von den Russen gerettet. Das habe ich nicht selbst gesehen, aber es haben mir verschiedene Menschen aus Sandleiten berichtet. Im Gemeindebau sprach man darüber. Außerdem steht das auch in dem schönen Buch über das Konge drinnen.«
In »Republik Konge. Ein Schwimmbad erzählt seine Geschichte« von Hans Hovorka ist eine Liste mit Namen von Hingerichteten abgedruckt, die wahrscheinlich die Namen der betroffenen Ottakringer Jugendlichen sind. Die Hinrichtung geschah am 7. 2. 1945, 10. Vollstreckungsniederschrift des Gerichts der Division Nr. 177.Heinrich Klein, der viele der Ermordeten persönlich kannte, suchte im »Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes« Urteile des Feld-Kriegsgerichtes gegen Selbstverstümmler aus Ottakring zusammen. Von 51 Verurteilten wurden 25 hingerichtet.
Gatschknödel und Klavier
Der 17-jährige Pietsch sah während des Reichsarbeitsdienstes im Warschauer Ghetto, als er »für die SS-Aufpasser ein Wachlokal mit Möbeln einrichten musste«, halbverhungerte Kinder auf der Straße herumkriechen und Tote am Gehsteig liegen. »Mach‘ dir keine Sorgen, die Juden müssen nun arbeiten«, wurde ihm beschieden. Einmal sah er am Warschauer Bahnhof Unmengen von Händen, die sich aus einem Viehwaggon streckten. Im Wiener Gemeindebau wusste man auch, dass Juden aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Der kleine Alfred spielte vierhändig Klavier mit der Tochter des Unterwäschefabrikanten Bernhard Schön, der eine große Fabrik in der Wilhelminenstraße besaß. Als er später hörte, dass die Familie verschwunden war, fuhr er mit dem Rad zu deren Wohnung in die Westbahnstraße, wo ihn ein Soldat mit deutschem Akzent hinausschmiss. Bis heute wüsste er gerne, ob die ganze Familie rechtzeitig nach Amerika auswandern konnte.
Was Panzerfahrer Pietsch genau im Krieg gemacht hat und wie das Kriegsgeschehen verlief, darüber redet er bei SOHO nicht so gerne (im Buch schon, aber dort schrieb er auch nicht über Tote, wendet er bei der Autorisierung ein), viel lieber schwärmt Pietsch von seiner Kindheit in Sandleiten mit selbstgebauten Kistenwägen (die Eierkisten kamen vom Greißler Jirava), mit denen sie vom Matteottiplatz hinunterfuhren und dem Straßenbahnerfeld, auf dem die Jugendlichen mit »Gatschknödel« gegen die Gang aus der »Paprikakistn«, einem Gemeindebau neben dem Kongresspark, kämpften.
Er berichtet aber auch von zerschossenen Arbeiterheimen auf der Thaliastraße, 1934, von schwerverletzten Straßenbahnern, die von der Trageliege aus hingerichtet wurden, »was die Bevölkerung empörte«, von Sportklub und Vienna. »Ich habe beim Boxen alles aus mir außebracht, was im Krieg passiert war«, sagt er heute. Nach dem Krieg seien die zurückgekehrten jungen Wehrmacht-Soldaten auf dem Matteotti-Platz gesessen und hätten sich gegenseitig erzählt, was passiert war.
Einmal musste er 1945 als Gefangener warten und »wir sitzen am Gehsteig und 20 bis 25 wild durch die Gegend in die Freiheit laufende ehemalige Konzentrationslagerhäftlinge schlagen uns. Die gingen auf uns los und ein Amerikaner schoss denen einmal quer über die Köpfe«, schüttelt er den Kopf über die Situation. Seine Selbstreflexion ließ ihn sein Mitgefühl bewahren, im Gegensatz zu anderen, die bis heute glauben, sie wären Helden gewesen und ihre Handlungen würden zu Unrecht verurteilt.
In Kooperation mit SOHO IN OTTAKRING