Poeten von heute sind weniger zerquälte Gestalten, die einsam einen Strand vor stürmisch wogender See entlangwandern und die verschiedenen Formen der Selbsttötung erwägen, nein, sie gehen lieber surfen. Weshalb sie folgerichtig zuweilen »Surfpoeten« heißen. Die Literatur hat es bekanntlich schwer, noch Gehör zu finden im Angesicht des brausenden Lärms unzähliger, meist werblicher Botschaften. Ein beliebter Kniff ist deswegen, die Liddaradur in einen Event zu packen. Gerade ostdeutsche Autoren waren da findig und gründeten sogenannte Lesebühnen. Aber geht das denn? Quälend fragt sich das tief erwägende Bewusstsein, was nochmal mit »Verflachung« gemeint war.
Deswegen steigen wir mit ihm gemeinsam tief hinab, sehen aber, wie uns auf der Treppe bereits Gottfried Benn entgegenkommt. Er erklimmt die Stufen aus dem Keller einer eben jener Lesebühnen, die er besuchte, weil man ihm erzählt hatte, die aktuelle Poesie fände sich dort unten. Auf der Straße angekommen raucht er erstmal eine Zigarette. Wir lesen vorsichtig in seinem Gesicht und erkennen, dass wir ihn besser nicht fragen, wie ihm denn der Poetry-Slam gefallen habe. Nun, er mochte es eben gerne statisch. Jetzt ärgert es uns aber doch und wir gehen zu ihm hin, hauen ihm die Fluppe aus der Hand und sagen (wohlerwogen): »Sie vollgefressener Hochkunstwalfisch, können Sie sich nicht erst einmal anhören, was die Jungs aus dem Osten zu sagen haben? Es geht denen nämlich auch um Ernährung!« Benn zieht ein Funktelefon aus der Tasche seines Trenchcoats und will vermutlich die Polizei anrufen, oder schlimmer noch, Ingeborg Bachmann. Wir bereuen längst jedes unserer Worte, da erscheint ein kleines Spotlight auf der sesamstraßenartigen Ziegelsteinmauer hinter uns. Es sucht ein wenig herum, bis es hinter einer geschwungenen Straßenlaterne Meikel Neid entdeckt. Kaum steht der im Lichtkegel, beginnt er zu sprechen:
Saubohnen und Schießpulver
»Die Surfpoeten wurden kurz vor oder kurz nach der Wende gegründet. Vielleicht auch viel früher oder viel später. So genau weiß ich das nicht, denn ich war damals noch ein Kind und, wie alle Kinder aus der DDR, voll auf Cortison. Außerdem trug ich, ebenfalls wie alle Kinder aus der DDR, eine Brille, deren Gestell aus Styropor bestand und deren eines Brillenglas mit Heftpflaster abgeklebt war. Ich hatte einfach keinen Durchblick, aber das war egal, denn in der DDR hatten wir ja ohnehin nichts. Das machte sich vor allem bei den Süßwaren bemerkbar. Zuerst tauchte Persipan (Süßkram aus Pfirsich- oder Aprikosenkernen) als billigere Alternative für Marzipan auf. Später kam dann wegen Rohstoffknappheit Resipan (Maisgrieß mit Zucker und Aroma) auf den Ostmarkt, welches wiederum wegen Maismangels von Nakapan (Kartoffelgrieß mit Zucker und Aroma) abgelöst wurde. Schokolade wurde im Osten statt aus Kakaobohnen und Milchpulver aus Saubohnen und Schießpulver hergestellt. Kaugummis und Gummibärchen bestanden hauptsächlich aus in mundgerechte Stückchen zugeschnittenen und mit Schulmalfarben bemalten Autoreifen.
Eines Tages, während ich Jungspund, völlig mit Cortison zugedröhnt, mich mit Schießpulverschokolade vollstopfte und herausfand, dass sich Mauerfall auf Trauerfall reimt, gründeten Ahne, Spider und Lt. Surf die Surfpoeten. Rebellisch wie sie damals waren, trugen sie ihre Pionierhalstücher statt um den Hals als Stirnband um den Kopf gebunden, Ahne und Spider lasen auf Altpapier gekritzelte Texte vor, zwischen denen Lt. Surf Schallplatten von Ostrockern (er nannte das Surfmusik) auflegte. Ich stieß erst zu den Surfpoeten, als Ahne, Spider und Lt. Surf ihre Pionierhalstücher längst nur noch als Schmuckelement an ihre Rollatoren gebunden trugen und die Surfpoeten ihren 100. Besetzungswechsel hinter sich hatten. Während Ahne längst in Hollywood angekommen ist, Lt. Surf als Besitzer mehrerer Diskotheken auf Ibiza residiert und Spider seit einigen Jahren Bürgermeister einer Kleinstadt auf Kuba ist, lebe ich noch immer in der Hauptstadt der ehemaligen DDR und esse Schießpulverschokolade. Ab und zu allerdings, und zwar nicht, weil es mir schmeckt, sondern nur weil ich es kann, esse ich auch mal eine Banane.«
Surfpoeten im Wiener rhiz
An dieser Stelle hätten wir uns jetzt den verdienten Applaus erwartet, aber die Einspielung scheint kaputt zu sein. Mist, Gottfried Benn ist auch schon weg. Er war übrigens nur sauer wegen der Zigarette und wollte sich schnell neue kaufen. Ungesunde Zeiten waren das damals. Meikel Neid hat längst in seinem Schulranzen Westschokolade gefunden und beginnt diese zu mampfen. Von dem kriegen wir jetzt auch nichts mehr zu hören. Wir sind also mit unserem kritischen Bewusstsein wieder allein. Klar ist, die Hochkunst und die Herzergießung brauchen längst Umwege. Ein wichtiges und kaum mehr umgängliches Element ist der Humor, ohne den man sich kaum mehr vor Publikum wagen kann. Wie jüngst Stefanie Sargnagel im skug-Interview kategorisierte, kann diese Liga »40-jähriger ›Titanic‹-Redakteur« sich gut mit dem Vorlesen durchschlagen. Die Leute stehen nämlich drauf. Die Surfpoeten haben diese Art Event miterfunden und ihr superschlaues Konzept sieht neben dem Lesen auch Disco vor. Gute Musik, lustige Texte: »Herz, wat willste mehr?« Deswegen ist es vielleicht eine gute Idee, sich die Truppe mal in der »Realität« anzuschauen und zwar vor der echten Ziegelsteinmauer des Wiener rhiz am Samstag, dem 18. Mai 2019.