Das Festival lädt am Eröffnungsabend ins Kaufhaus Jandorf. Das Jandorf steht in der Berliner Brunnenstraße, wo Gentrifizierungszentrum Prenzlauer Berg und Galerienkunstszenezentrum Mitte aufeinandertreffen. Letzten Herbst hatte sich eine Eventfirma in den jahrelang leerstehenden Komplex eingemietet, seitdem steht die gut aufgehübscht entkernte Immobilie aus dem frühen 20. Jahrhundert für Kulturveranstaltungen zur Verfügung, die nicht nur in Berlin stattfinden, sondern auch danach aussehen wollen: luxuriöser Verfall, aber nicht einsturzgefährdet. Das wirkt immer noch verlässlich beeindruckend. Wäscht man sich vorher also nochmal mit allen Wassern der Popkultur und des Kunstdiskurses und schlägt auf am Vorabend des 1. Mai, der, der Liveticker verrät’s, in Hamburg und hier auch nicht mehr das sein wird, was er mal war, beim Pictoplasma-Festival, dem zehnten, der Jubiläumsausgabe, die vom 30.4. bis zum 4.5. gefeiert wurde – und schon ist man ganz unzynisch gefangen von einer wundersam süßen und unendlich weirden Welt. Klar ist das hier Kunstszene, aber die Kunstszenemenschen teilen sich den mietbaren Freiraum mit Comicfans, Werbepraktis und Familien aus unhippen Ecken der Stadt. Staunende Kinderaugen sind vielleicht die beste Brille für die »Pictoplasma Portrait Gallery«, die hier vorübergehend Einzug hält.
Seit zehn Jahren stellt das Pictoplasma Festival Einblicke in neue Bildwelten vor, die dort entstehen, wo sich Illustration und Grafik, Animation und Urban Art überschneiden. Konkret geht es um Characters, um die Frage, wie Kunst Wesen erschaffen kann, die als menschliche, als vor- oder posthumane Wesenheiten mit Eigenschaften und Gefühlen wahrgenommen werden. Was ist ein Gesicht, wie weit kann etwas grafisch heruntergebrochen werden, um als Gesicht wahrgenommen und als Gegenüber akzeptiert zu werden, fragt das Festival. Ab wann beginnen Striche, Pixel oder Wollknäuel zu leben? Es ist eine Kunst, die unmittelbar einnimmt, weil sie genau darauf spekuliert: auf Unmittelbarkeit, auf die Reduktion hin zum Eindeutigen, das natürlich immer auch mehrdeutig sein kann oder gar muss. Eine Kunst aber auch, die immer umkippen kann: »zu wenig Charaktere, zu viele Maskottchen«, postuliert eine zentrale Installation, und statt l’art pour l’art steht sie oft schlicht im Dienst der Werbe- und Markenidentitätsindustrie. Und schöpft vielleicht gar nicht aus den Vollen: Schließlich sind auch noch die abstraktesten Fiktivitäts-Masken mit menschlichen Gefühlen beladen, als könnte Character Design nicht ebenso ein Spielraum sein, neuen, post- und transhumanen Emotionen auf die Spur zu kommen.
Mátyás Lanczinger
Juan Salas
Doch davon ist hier nur wenig zu spüren. Bei der Porträt-Galerie geht es tatsächlich um die Kunst des Porträts, das schon immer auch das wahre Wesen der Porträtierten zum Vorschein bringen sollte. Die Ästhetiken reichen von Kommentaren zur klassischen Herangehensweise vom Ölbild im Goldrahmen und Büste zur Wand mit Character-Selfies, vom Bilderbuch-Baumstumpf zum Renaissance-Triptychon, von Punkt-Punkt-Komma-Strich zum wabernden Cyber-Monster. Der »Man Who Knew It All« wirkt etwas grummelig, nachvollziehbarerweise, während das von Doudouboy festgehaltene Lebkuchengesicht des Officers Jack Fischer den treudoofen Optimismus der amerikanischen 1960er ausstrahlt. Ist es ein großer Spaß, sich in die Fantasiewelten dieser Wesen hineinziehen zu lassen, wird das Vergnügen noch gesteigert durch das vierteilige Animationsfilm-Programm, das an drei Abenden im Kino Babylon präsentiert wurde. »Welcome to the Cryptozoo« oder »Empathic Accuracy« waren die recht willkürlichen Ûberschriften. Jeweils 75 Minuten lang wurden in Kurzfilmen neue Welten erschlossen, mal melancholisch, mal witzig, mal gemein. Dauerhaft präsent natürlich hier: der Musikclip, der in den letzten Jahren offensichtlich beinahe eine Symbiose mit Character Design eingegangen ist. Passenderweise, vertragen sich die kurze Spielzeit und Musik doch bestens mit der Expressivität und der Offensichtlichkeit der Wesen.
So gesehen sind die Characters des Pictoplasma Festivals durchaus Pop in seiner reinsten Form. Hier wie dort geht es letztendlich um ein Herunterbrechen von Komplexitäten des Menschlichen auf eine quitschebunte Metaebene, die nicht der kleinste gemeinsame Nenner sein muss, aber doch so konstruiert, dass sie unmittelbar verstanden werden kann. Und hier wie dort ist es dann am besten, wenn es unverdorben primitiv reinschießt, ins Ohr, ins Auge, in den Körper, ohne Vor- und Ûberbau, wie es vielleicht einigen noch möglich war, letzte Woche, beim Pictoplasma: Kinder, die auf knallrote Knollennasen starren.
Big Butter