Sachsen, wie man es nicht einmal von hinten sehen will © YouTube
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In Maaßen antifaschistisch

Während Neonazis in Deutschlands Straßen aufmarschieren, bekennen die Parteien Farblosigkeit. Ein umfassender Lagebericht von Roland Rottenfußer, Chefredakteur von »Hinter den Schlagzeilen«, mit denen skug seit einigen Jahren kooperiert. Erstmals erschienen ebendort im Oktober dieses Jahres.

»Freu dich bloß nicht zu früh, spar dein Mitleid dir auf«, sang Gitte Haenning 1980. Dies gilt wohl auch für die Wahlen in Bayern, die aller Wahrscheinlichkeit nach für die repressionsfreudigen Bajuwaren desaströs ausfallen werden. Dennoch wäre Triumphgeheul verfrüht. Vielleicht werden Köpfe rollen, die man aber in Windeseile durch ebenso engstirnige andere Köpfe ersetzen wird. Der Rechtsruck marschiert noch, auch wenn er teilweise an Schwung verloren zu haben scheint. Sein Erfolg ist weniger, dass es jetzt so viele hundertprozentige Nazis gibt; bedenklich stimmt vielmehr, dass sich kaum noch jemand traut, nicht wenigstens ein bisschen rechts zu sein. Allenthalben wiegeln Politiker ab, um sich opportunistisch ihr Stück vom großen Kuchen des rechten Wählerpotenzials zu sichern.

»Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome«, sagte der sächsische Ministerpräsident Kretschmer in seiner Regierungserklärung am 5. September. Dies, obwohl auf einem Video zu sehen war, wie zwei Deutsche bedrohlich auf einen Farbigen zuliefen und brüllten: »Haut ab! Was ist denn, ihr Kanacken?« Mehrere Beobachter*innen sprachen von »Jagdszenen« auf Flüchtlinge. Besonders scharf kritisierte Kretschmer jedoch Journalist*innen, die die sächsische Stadt »von außen« anzuschwärzen versucht hätten. Die Gewalttäter*innen und Verbalradikalen auf den Straßen seien schließlich nicht alle Chemnitzer*innen gewesen. Und sie seien außerdem nicht in der Mehrheit gewesen. Das deutsche Establishment ist anspruchslos geworden. Reicht es wirklich aus, wenn die Zahl der Neonazis, der Hitlergrußzeiger und Flüchtlingsjäger unter 50 Prozent bleibt?

Innenminister Seehofer schwieg lange zu den Ereignissen vom 1. September in Chemnitz; vieles, was er dann doch vorbrachte, mussten Journalist*innen ihm aus der Nase ziehen. Er habe Verständnis, »dass die Bevölkerung aufgewühlt ist, dass sie empört ist über dieses Verbrechen«. Wen er als »die Bevölkerung« titulierte, blieb unklar. Andererseits gebe es bei ihm »null Toleranz bei Gewalt«. Diese Äquidistanz zu Neonazis wie Antifaschist*innen verschob sich bei »Crazy Horst« dann bald zu einem Übergewicht des Verständnisses für die rechten Demonstrant*innen. Unmittelbar nach den Übergriffen bezeichnete Seehofer die Migrationsfrage als »die Mutter aller Probleme« im Land. Alle anderen Probleme – Arbeitslosigkeit, Klimawandel, Bildungsmisere und so weiter – wären demgemäß nur »Söhne und Töchter« des einen Urproblems. Migration als Superproblem ergänzt Sicherheit als Supergrundrecht – so die neurechte Agenda. Na super! Angela Merkel konterte Seehofers Vorstoß indes mit der ihr eigenen, wägenden Milde. »Ich sag’ das anders.«

Das Buhlen um rechte Wähler*innen
Sahra Wagenknecht erreichte in ihren Äußerungen zu Chemnitz zwar natürlich nicht Seehofersche Geistesniederungen; aber auch sie wiegelte ab – indem sie das rechte Sympathisant*innenumfeld mit wohlklingenden Selbstverständlichkeiten einlullte: »Es geht um die Vielen, die heute AfD wählen und teilweise auch zu Demos gehen, die aus dem AfD-Umfeld organisiert werden. Wer sie alle zu Nazis abstempelt, macht es sich viel zu einfach.« Das ist formal korrekt, aber politisch erschütternd anspruchslos. Dass wir nicht an die 20 Prozent »echte« Nazis in Deutschland haben, mag richtig sein. Aber schon 0,2 Prozent wären zu viele, und 2 Prozent Sympathisant*innen und demonstrationsbereite »Rechtsoffene« wären bei weitem zu viele. Zu schweigen von nahezu 20 Prozent AfD-Wähler*innen, die sich an den die Nazi-Diktatur bagatellisierenden Zündeleien eines Höcke und Gauland nicht zu stören scheinen. Ganz offensichtlich will es sich auch Wagenknecht nicht mit diesem potenten Wähler*innenpotenzial verderben. Lieber verdirbt sie es sich mit aufrechten Antifaschist*innen. Sie verurteilt die Übergriffe von Chemnitz, duckt sich jedoch weg, wenn – wie am kommenden Samstag in Berlin – zehntausende Bürger*innen endlich gegen den braunen Terror und den rechten Zeitgeist aufstehen.

Nach Chemnitz ist das politische Deutschland rasch wieder zur Tagesunordnung übergegangen. Heil-Hitler-Grüße, Hetzjagden – ja, ich nenne es so! – gegen Zuwander*innen, ein Überfall auf ein jüdisches Restaurant … Wenn ich mir ein solches Szenario vor zehn oder 20 Jahren vorgestellt hätte, dann immer mit einem beruhigenden Hintergedanken: Wenn es mal so weit käme, würde die Staatsmacht das schon in den Griff bekommen. Von den etablierten Parteien ist zwar keinerlei Verbesserung in punkto Kriegspolitik, Sozialabbau und neoliberalem Ausverkauf der Gemeinschaftsgüter zu erwarten; aber eines werden sie dann doch nicht zulassen: eine Machtergreifung brauner Horden auf den Straßen.

Laut einem aktuellen Bericht der »Jungen Welt« häufen sich jedoch seit Chemnitz rechte Übergriffe in der Stadt. U. a. wurde das von einem Muslim betriebene Restaurant Safran verwüstet, der Inhaber krankenhausreif geschlagen. Und auch die Gewalt auf den Straßen eskaliert. »Einer der Betroffenen sagte dem Blatt, aus einer Gruppe dunkel gekleideter Personen heraus angegriffen worden zu sein: ›Drei oder vier Männer rannten auf mich zu und begannen, mich zu schlagen.‹ Ein anderer Mann habe da bereits blutend auf dem Boden gesessen, die Täter hätten ›Adolf Hitler Hooligans‹ gerufen, erinnerte sich der 23-Jährige. Eine angegriffene Chemnitzerin erzählt, die herbeigerufene Polizei habe abgeraten, Anzeige zu erstatten.«

Alles vor dem Aber …
Nun gibt es natürlich allenthalben Abgrenzungs- und Entrüstungsrhetorik im Stil von Kretschmers Aussage: »Das kann ich für die Bundesregierung sagen, dass wir das auf das Schärfste verurteilen.« Über solchen »klaren« Verurteilungen rechter Gewalt schwebt aber immer ein riesengroßes »Aber«. Es ist schlimm, was da passiert, aber ebenso schlimm ist doch die Ermordung von Daniel Hillig durch einen Flüchtling. Es ist schlimm, was da passiert, aber auf keinen Fall dürfen wir Pauschalverurteilungen äußern: gegen die Sachsen, gegen die Chemnitzer, gegen »besorgte Bürger« und »Zuwanderungsskeptiker« generell. Aber: »Alles vor dem Aber ist nicht wichtig«. So singt der Liedermacher Roger Stein in einem neuen Lied sehr treffend. Wir hören dieses »Aber« allenthalben in Wendungen wie »Ich habe nichts gegen Ausländer*innen, aber …« oder »Ich bin kein Rassist, aber …«

Der Beschwichtigungsdiskurs in Sachen Rechtsradikalismus hängt sich weitgehend an Selbstverständlichkeiten auf und »übersieht« die gefährliche Richtung, in die sich das Ganze bewegt. Natürlich sind nicht »alle« Chemnitzer*innen rechts und natürlich ist es ein Verbrechen, einen Menschen zu ermorden – egal, woher der Mörder kommt. Auch die Bezeichnung »Pogrom«, die von einigen Medien verwendet wurde, ist vermutlich nicht ganz passend, nimmt man die sogenannte »Reichskristallnacht« 1938 als Maßstab, als im ganzen Land Synagogen brannten, Juden gedemütigt und misshandelt wurden. Es scheint, als ob ein verhängnisvoller Gewöhnungseffekt eingetreten ist und die meisten mit sehr wenig zufrieden sind, was das Niveau der »Auseinandersetzung« auf unseren Straßen, in den Foren, Talkshows und Parlamenten betrifft. »Es ist immerhin kein Völkermord« reicht da fast schon für behagliche Zufriedenheit.

Gefährlich ist aber nicht, dass es im Jahr 2018 in jeder Hinsicht genauso zugehen würde wie 1933; gefährlich ist, dass die Tendenz, was fremdenfeindliche Übergriffe betrifft, steigend ist, dass Deutschland in kleinen – und manchmal gar nicht so kleinen – Schritten scheinbar unaufhaltsam nach rechts marschiert. Und viele unserer »etablierten« Politiker*innen bewegen sich in die gleiche Richtung, nur auf einem gepflegteren Diskursniveau und ohne die Grenze zur Illegalität zu überschreiten.

Karriere eines »Sonderberaters«
Ein Schlaglicht auf den herrschenden »Geist« in der Politik hat die Causa Maaßen geworfen. In einem eigentlich unfassbaren Vorgang wurde dem Präsidenten des Verfassungsschutzes, der ein Live-Video von fremdenfeindlichen Übergriffen ohne plausiblen Grund als gefälscht bezeichnet hatte, zuerst ein noch höher dotiertes Amt als Staatssekretär im Innenministerium angeboten. Mit Zustimmung der SPD-Spitze. »Die Skepsis gegenüber den Medienberichten zu rechtsextremistischen Hetzjagden in Chemnitz wird von mir geteilt. Es liegen dem Verfassungsschutz keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben.« So hatte Hans-Georg Maaßen in der »Bild«-Zeitung (!) zum Besten gegeben – und diese Aussage später weder zurückgenommen, noch belegen können.

Später, nach massiven Protesten, ruderten die Regierungspolitiker*innen zurück und gestanden Maaßen »nur noch« einen Job als Sonderberater im Innenministerium zu. Aber in welche Richtung dürfte dessen absonderliche »Beratung« wohl gehen? Will er weiterhin rechte Gewalt bagatellisieren und deren Gegner*innen als Fälscher*innen diffamieren? Bei seinem Innenminister dürfte der ehemals oberste Verfassungsschützer damit auf offene Ohren stoßen. Ja, der gesamte Seehofersche Diskurs der letzten Monate erweckt den Eindruck, als sei Maaßen des CSU-Chefs Guru und Stichwortgeber. Arme Verfassung, die auf solche »Schützer« angewiesen ist.

Das ganze Drama um Hans-Georg Maaßen wurde von den Medien überwiegend als privater Machtkampf dargestellt, bei dem Seehofer, Merkel und Nahles von jeweils unterschiedlichen Positionen aus ihr »Gesicht zu wahren« versuchten. Fast nie wurde untersucht, warum Maaßen, der ganz offensichtlich aus niedrigen Beweggründen versagt hatte, vom gesamten Regierungs-Establishment auf Rosen gebettet wurde. Ein Gespenst geht um in der deutschen Politik. Es ist das Gespenst der Angst davor, die ersehnte Gunst des anschwellenden rechten Wähler*innen-Reservoirs zu verlieren. Maaßens Versuch, das Hetzjagdvideo zu diskreditieren, und der Versuch »seriöser« Politiker*innen, ihm trotzdem die Stange zu halten, dokumentieren die verbreitete Feigheit vor den Feinden der Demokratie.

Hauptsache legal!
Auch scheint das Unbehagen über die Umtriebe in Sachsen zum großen Teil legalistischen Motiven zu entspringen. Anständige Menschen halten sich an die Gesetze und tun nichts Verbotenes. Diese Grenzüberschreitung, die Verweigerung des Gehorsams gegenüber der Staatsmacht ist es, was Politiker*innen an Rechtsradikalen vor allem irritiert. So stand es u. a. in einem Beschluss der FDP-Fraktion nach den fraglichen Ereignissen. »In Chemnitz waren nicht nur zu wenige Einsatzkräfte vor Ort, es wurden auch Straftaten wie etwa das Zeigen des Hitlergrußes nicht konsequent unterbunden«. Der Staat müsse jederzeit sein »Gewaltmonopol« durchsetzen, sagte Christian Lindner. Nicht so sehr der Inhalt dieser Grenzüberschreitung scheint also zu stören – also das Leid der Opfer und die Schäbigkeit jener Weltanschauung, die von den Täter*innen immer unverblümter auf unsere Straßen getragen wird.

Wenn aber keine ernsthaft empfundene Abscheu vor rechten, also vor faschistoiden, rassistischen und inhumanen Gesinnungen mehr vorhanden ist, wenn sich brave Bürger*innen, um nicht in der braunen Suppe zu ertrinken, nur noch an den Strohhalm der Legalität klammern können – dann »kippt« die Situation in dem Moment, in dem die Unmenschlichkeit in Gesetze gegossen wird. AfD-Politiker*innen in deutschen Länderregierungen und in der Bundesregierung sind so wenig undenkbar wie Gesetzesverschärfungen, die von AfD-Imitator*innen in den »normalen« Parteien vorangetrieben werden könnten – in der Absicht, den Rechten durch Angleichung Wähler*innenstimmen abzunehmen. »If you can’t beat them, join them«.

Ein historisches Versagen
Es scheint, als ob die AfD-Wähler*innenschaft ein unglaublich süß schmeckender Kuchen sei, von dem jeder sich gern etwas abschneiden würde. Den Abtrünnigen wird Resozialisierung und Generalamnestie versprochen, ohne dass sie etwas an ihrer Einstellung ändern müssten. Geändert haben sich ja schon die Wirtsparteien, die diese Wähler*innen nur allzu gern zu sich einladen würden. Fast jede Partei hat ihre »Sondierer*innen«, die in der Auseinandersetzung mit den Rechten schon mal die weiße Flagge hissen, während die Parteimehrheit sich noch in der Burg der offiziellen Sprachregelung verschanzt: Wir sind ungeheuer entsetzt über diese verwerflichen braunen Umtriebe und schließen eine Koalition mit der AfD aus.

Als Tabubrecher und volksnahe Vom-Leder-Zieher hat die CDU ihren Jens Spahn, die FDP ihren Christian Linder, die SPD Heinz Buschkowsky und – es ist traurig zu sagen – die Linke hat Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine. Die CSU – nun ja – wer geht in dieser Katastrophenpartei eigentlich nicht auf Kuschelkurs zu den Rechten? Wer wiederholt rechts blinkt, von dem ist zu erwarten, dass er auch irgendwann einmal rechts abbiegt.

Deutschland – seine Politiker*innen, Medien und »Normalmenschen« – sind dabei, in einer historischen Situation zu versagen, die angesichts verheerender deutscher und europäischer Faschismuserfahrung doch eigentlich gar nicht so furchtbar schwer zu analysieren wäre. »Seht euch diese dumpfen Bürger an. Zweimal kam der große Krieg mit aller Macht. Und sie sind zum dritten Mal nicht aufgewacht.« Diesen Vers schrieb Konstantin Wecker im Hinblick auf die beiden Weltkriege und auf die neue drohende Kriegsgefahr. Mit Blick auf den momentanen Rechtsruck könnte man das so abändern: »… zum zweiten Mal nicht aufgewacht«.

Die Verführungskraft des Hässlichen
Man reibt sich die Augen und fragt: Worin genau besteht die Verführungskraft dieser jetzt offenbar eminent marktgängigen Weltanschauung? Menschen, die Hilfe brauchen, nicht helfen – aus Egoismus. Die Nation wieder hochhalten. Das Eigene idealisieren und bewahren, das »Fremde« disqualifizieren und abwehren. Es ist eigentlich ein alter Hut. Und es ist ziemlich billig. Dergleichen wurde schon hundertmal analysiert, durchschaut und widerlegt. Was hat diese Ideologie an sich, dass so viele meinen, vor ihr kuschen, mit ihr kuscheln, sich vor ihr wegducken und ihr zumindest hie und da ein paar Schritte entgegenkommen zu müssen? Ist es die schon schwelende Angst, dass »die« doch noch einmal an die Macht kommen könnten? Möchte man sich insofern schon jetzt gut stellen mit den möglichen Sieger*innen? Ober steckt dahinter schlicht die Verkennung der Situation, spielerisches Nicht-ernst-Nehmen und Nicht-wahrhaben-Wollen?

Das politische Deutschland hat sich weitgehend die Suggestion der Rechten angeeignet, ein Mord der von einem Ausländer verübt wurde, sei schlimmer als andere, von Deutschen verübte Morde und bedürfe somit einer ganz anderen Beachtung. Es sei, wenn auch nicht völlig korrekt, so doch menschlich verständlich, dass sich da der Volkszorn rege, dass fremdenfeindliche Großdemonstrationen das Land aufwühlten und verstörten wie nur wenige andere Ereignisse der letzten Jahre. Wenn mich Hans ermordet, ist das eine Fünfzeilennachricht in der Lokalpresse wert; rammt mir dagegen Mehmet ein Messer in den Rücken, darf ich davon ausgehen, dass die Ministerin auf meiner Beerdigung redet. In Teilen der Presse und der politischen Elite würde die Notwendigkeit eines grundlegenden Politikwechsels beschworen – wenn nicht gar das Heraufdämmern einer neuen Großepoche der Menschheit.

Der Zeit-Ungeist ist derzeit so stark, dass fast jeder, der nicht rechts ist, zumindest heuchelt, es zu sein. Das ist ein zunehmendes Ärgernis und eine Belastung für den politischen Diskurs. Denn wenn man zu den Überzeugungsrechten noch die strategischen, die scheinbaren, die partiellen und tendenziellen Rechten hinzu addiert, bleiben nur noch wenige übrig, die mit offenem Visier zu sagen wagen: Nein, ich bin kein Rechter.

Rechte »verstehen« – ja, aber …
Ich möchte zum Thema »Verständnis« noch etwas hinzufügen: Immer, wenn der Begriff »Versteher« in der Vergangenheit als Schimpfwort in die Diskussion geworfen wurde (siehe z. B. »Putin-Versteher«), argumentierte ich, dass »Verstehen« doch erstmal etwas Gutes sei und nichts damit zu tun habe, dass man sich die Weltanschauung dessen, den man versteht, auch selbst aneigne. Dies sage ich auch weiterhin. Es gibt zu Rechtsradikalen und deren »bürgerlichem« Sympathisantenumfeld aber drei Haltungen, die man unterscheiden muss.

Zuerst ist da eine philosophische, fast spirituell zu nennende Haltung: Auch rechtsextremen Verbrecher*innen kommen Menschenrechte und Menschenwürde zu. Es führt zu nichts, sie quasi als »Untermenschen« zu beleidigen. Damit würde man sich auf das Niveau hinabbegeben, auf dem Rechte selbst gegen Migrant*innen hetzen. Neonazis sind vielleicht Menschen mit einem guten Kern und mit dem Potenzial zur Umkehr. Vergebung ist möglich und auch wünschenswert, da wir mit ewig geschürten Ressentiments auf Dauer nur uns selbst vergiften.

Zum zweiten kann man sich Rechtsradikalen psychologisch-deutend nähern. Man kann z. B. Kindheitstraumata aufdecken, Gewalterfahrungen, die ihrer nun selbst gewaltbereiten Gesinnung zugrunde liegen können. Solche Zusammenhänge aufzudecken, hat nichts mit gutmenschlichem Sozialpädagog*innen-Gedöns zu tun. Gerade als Linke sollten wir den Einfluss von Milieu, Elternhaus und früher Opfererfahrung stets mit in den Blick nehmen. Diese Faktoren erklären Fehlverhalten mitunter; ob man sie auch als Entschuldigung durchgehen lässt, darüber kann man sich streiten.

Die dritte Herangehensweise ist jedoch eine politische: Jenseits allen spirituellen und psychologischen Verständnisses sollte man in Debatten bei einer klaren Haltung bleiben und niemals das, was man zu verstehen versucht, auch selbst werden. Verständnis sollte uns nicht dazu verführen, den Platz zu verlassen, von dem aus wir verstehend auf die Rechten blicken. Zu viel Entgegenkommen, um Rechte »abholen, wo sie gerade stehen«, führt dazu, dass diese am Ende uns abholen und nach rechts ziehen. Der Abgrund, in den wir starren, darf uns nicht selbst einschwärzen bzw. in diesem Fall -bräunen. Wir riskieren sonst, den Einflussbereich des rechten Zeitgeists um Teile unserer selbst zu erweitern, wie es bei Politiker*innen von Spahn bis Wagenknecht, von Buschkowsky bis Lindner geschehen ist. Entgegenkommen wird von Gegner*innen als Erfolg verbucht und ermutigt sie, uns in diesem großen gesellschaftlichen Tauziehen weiter in ihre Richtung zu ziehen. Die grandiose Strategie, Rechtsradikale zu »bekämpfen«, indem man ihnen immer ähnlicher wird, sollten wir der CSU überlassen, die vermutlich am kommenden Sonntag damit kläglich untergehen wird.

CSU-Absturz: Nicht zu früh freuen!
Opportunistische Politik kann man eigentlich nur drehen, indem man so viel Druck ausübt, dass es bestimmten Politiker*innen opportun erscheint, nunmehr links zu blinken. Die drei großen Anti-CSU-Demonstrationen in München (am 10. Mai, 23. Juli und 3. Oktober) haben gezeigt, dass sich Widerstand formieren kann. Die Demonstrationen in Bayern und im Hambacher Forst ließen zum ersten Mal bei einigen die Hoffnung auf eine Trendumkehr keimen. Das überwältigend negative Echo, das Horst Seehofer und die CSU aufgrund ihres Sommertheaters im Juni/Juli ernteten, signalisiert zum ersten Mal nach einer endlos erscheinenden Siegesserie des rechten Zeitgeists, dass die Rechnung der Appeasement-Politiker*innen nicht immer aufgehen muss.

Der Innenminister hatte das Bestehen der Großen Koalition von der Zurückweisung von Flüchtlingen an der bayerischen Grenze abhängig gemacht, die man – wie man heute weiß – an den Fingern einer Hand abzählen kann. Das hat ihm viele Sympathien gekostet und vermutlich wird er zurücktreten müssen. Aber selbst wenn derzeit einiges politisch in die richtige Richtung läuft – es bleibt ein schaler Nachgeschmack. Allzu offensichtlich ist, dass die Koalition in ihrem Schlingerkurs eben auch mal aus Rücksicht auf die »liberale Mitte« der Bevölkerung einen Schritt nach links zu machen versucht. Die Akteur*innen sind gedanklich so davon absorbiert, abwechselnd das Lager der »zuwanderungskritischen Besorgtbürger*innen« und jenes der öko-neoliberalen »Mitte« zu bedienen, dass sich die Frage, was ihre ureigene Überzeugung ist, für sie offenbar gar nicht stellt.

Man sollte auch keine voreiligen Schlüsse aus den Umfrageergebnissen ziehen. Noch immer ist die Bevölkerungsmehrheit in Bayern unfähig, auch nur in Ansätzen einen »Linksruck« zu vollziehen. Ohne das Auftauchen der AfD und der wertkonservativen, bürgerlichen »freien Wähler*innen« stünde die CSU noch heute bei Werten um 50 Prozent. Auch darf man die Abscheu, die heute viele Menschen vor Seehofer und Söder zeigen, nicht ausschließlich auf politische Inhalte zurückführen. Vielmehr fühlen sich Wähler*innen von dem »Gezänk« und »Theater«, von dem Schwanzlängenmessen der Streithammel oder von der Intimfeindschaft Seehofer/Merkel abgestoßen – nicht von deren politischen Programmen, die sich keineswegs drastisch voneinander unterscheiden. Neoliberaler Bellizismus, ein autoritärer Polizeistaat und eine restriktive Flüchtlingspolitik sind mittlerweile weitgehend Konsens. Bürger*innen, die sich jetzt von der CSU abwenden, wären vielleicht nur harmonischer agierende Neoliberale und Bellizist*innen lieber.

»Kanzlerinnendämmerung« – aus den falschen Gründen
Auch die Unkenrufe über Angela Merkels bevorstehende »Kanzlerinnendämmerung« bleiben weitgehend inhaltsleer. Die Medien interessieren sich für ein spannendes Königsdrama, nicht dafür, wie es den Statist*innen – also uns Bürger*innen – aufgrund der falschen Politik nach 13 Jahren Merkel geht. Sie geißeln vermeintliche Schwäche und idealisieren Stärke. Richtiger wäre es, das Fehlen von Menschlichkeit zu beklagen. Die Mainstream-Presse richtet eher diffuse Appelle an die Union – wie zuvor schon an die SPD. Es müsse sich was ändern. Aufbruch und Erneuerung seien nötig. Pure Langeweile angesichts sattsam bekannter Akteur*innen macht sich breit.

Kaum jemand wirft Merkel jedoch das vor, was man ihr eigentlich vorwerfen müsste: Sie war die systemfromme Exekutorin der neoliberalen Umgestaltung Deutschlands und Europas und hat selbst die halbherzige Distanzierung ihres Vorgängers Schröder von der US-Kriegspolitik eilfertig rückgängig gemacht. Merkel war Befürworterin der antidemokratischen TTIP-Verträge und hat die Bespitzelung der Bevölkerung durch die NSA resigniert durchgewunken. Sie hat zugelassen, dass Griechenland durch die »Rettungspolitik« der EU-Institutionen ins Elend gestürzt wurde. Merkel hat eine Politik der Sicherheitshysterie und der damit einhergehenden Einschränkung der Bürgerrechte mitgetragen. Sie ist für das Menschenverelendungsprogramm Hartz IV das, was Obama für Guantanamo war: nicht die Erfinderin des Grauens, wohl aber seine an Veränderungen letztlich uninteressierte Verwalterin.

Dies ficht die öko-neoliberal fühlenden Journalist*innen von »Zeit«, »Spiegel«, »Stern« und »Süddeutscher Zeitung« jedoch nicht an. Von Merkel blieben ihnen hauptsächlich die Phrasen »Sie kennen mich« und »Wir schaffen das« im Gedächtnis. Vor allem natürlich ihre Flüchtlingspolitik, die sie längst nach rechts gedreht hat, deren vorübergehend menschliches Gesicht im Jahr 2015 ihr jedoch nach vorherrschender Meinung Kopf und Kragen gekostet hat. »Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen, dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land«, so die Kanzlerin in ihrem vielleicht tapfersten Statement. Der uckermärkischen Göttin Ende dämmert nun herauf und die Medien inszenieren dies als Warnung an alle, die es künftig wagen sollten, sich offen gegen Rechts zu stellen.

Merkel-Nachfolge – ein hoffnungsloser Fall
Es ist leicht, über Merkels missmutiges und müdes Mienenspiel zu spotten. Über die Raute, die sie mit ihren Fingern zu formen pflegt. Über ihren fundamentalen Mangel an politischer Inspiration und inspirierendem rhetorischem Schwung. Über Jahre der Stagnation und schließlich versiegende Führungsstärke. Nicht übersehen werden sollte aber, dass Angela Merkel aus Sicht des neoliberalen Gesamtprojekts eine überaus effektive und durchaus »starke« Kanzlerin war. Die Mainstream-Presse versagt auch gegen Ende dieser Kanzlerinnenschaft angesichts der Aufgabe, die Problemzonen von Merkels Politik wirklich ungeschönt zu benennen.

Ein glatteres Gesicht wird dieselbe (oder eine ganz ähnliche) Politik bald vor den Kameras vertreten. Es wird Annegret Kramp Karrenbauer gehören. Oder Armin Laschet. Oder – schlimmer noch – Jens Spahn. Wenn die SPD dann bei Neuwahlen als Gegenkandidat*in wahrscheinlich Heiko Maas aufbietet, ist alles wieder gut. Maas wird mit seiner gut aussehenden Gattin, der Schauspielerin Natalia Wörner, glamourieren. Und Jens Spahn sieht selbst gut genug aus. Ein Duell der smarten Karrierist*innen. Neue Besen kehren in jedem Fall gut und lassen für ein paar weitere bleierne Jahre ungerechtfertigte Hoffnung keimen.

Weder bei der Union noch bei der SPD zeigen sich die geringsten Anzeichen, in welche Richtung die allenthalben beschworene »Erneuerung« gehen könnte. Nach links trauen sich beide Parteien nicht. Bei der Union wird es vermutlich nach rechts gehen – aber auch nicht zu sehr, denn man hat ja den Absturz des AfD-Imitators Horst Seehofer noch in frischer Erinnerung. Für andere Wege jenseits von »Rechts« und »Links« fehlt die politische Fantasie. Ein bisschen Europa, bessere Bildung und Digitalisierung müssen reichen.

Systemstabilisierende Volksberuhigung
Bei sozialen Problemen gehen alle Regierungsparteien pragmatisch vor: Deren Existenz wird so lange geleugnet, bis sie absolut unübersehbar und bedrängend geworden sind. Dann werden hektisch Maßnahmenpakete geschnürt, die in die richtige Richtung gehen, jedoch niemals so weit, dass Großkonzerne und Kapitalbesitzer*innen um ihre Pfründe fürchten müssten. Wohnungsbau, Pflege und Renten: auf diesen Gebieten dürfte sich auf jeden Fall was tun, jedoch in einem kapitalverträglichen Ausmaß. Anstreben wird man systemstabilisierende Volksberuhigung, nicht »systemabschaffende Reform«, wie sie Rudi Dutschke vorschlug.

Wir dürfen uns ruhig ein bisschen darüber freuen, dass die CSU am kommenden Sonntag in die Regionen einer »normalen« Partei abrutschen wird. Der Machtapparat, der Bayern seit dem Zweiten Weltkrieg fest im Griff hielt, wird ein wenig aufgebrochen und aufgefrischt werden. Aber eine Regierung Söder/Aitwanger – wenn dies die größte realistische Hoffnung für Bayern sein soll, dann möchte ich nicht wissen, was Verzweiflung bedeutet.

Wenn sich tatsächlich etwas tun soll in naher Zukunft, so muss der Impuls aus dem außerparlamentarischen Raum kommen, muss Veränderung von Kräften abseits ritueller Parteien-Spiegelfechtereien erzwungen werden. Wir alle sind aufgerufen, unseren Teil dazu beizutragen.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 12. Oktober auf »Hinter den Schlagzeilen«.

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