Günter Vallaster im Café Bendl (Wien) © Alain Barbero
Günter Vallaster im Café Bendl (Wien) © Alain Barbero

Avantgarde war gestern … was bleibt ist Arrière-goût #4

Der Arrière-goût ist der Nachgeschmack der literarischen Revolte, mit dem Kleinverlage heute umzugehen einen Weg gefunden haben. Wir diskutieren mit ihnen diesen Umgang in loser Folge. Diesmal mit Günter Vallaster von der Edition ch.

Allzu gerne fallen experimentelle und transmediale Projekte in die Aufmerksamkeitslücken, die sich zwischen den jeweiligen Kunstgattungen auftun. Diese Lücken werden jedoch wiederum genutzt, belebt und zu verbindenden Orten. Tatsächlich gibt es viele interessante Kooperationen und Initiativen von Schriftsteller*innen und Literaturarbeiter*innen, die nicht nur das Schreiben praktizieren, sondern auch Publikationsorte, Netzwerke und ungewöhnliche Texte bauen. Sie sind der Nachgeschmack der Avantgarde in unserer Zeit. In dieser Serie werden unter diesem Gesichtspunkt in unregelmäßigen Abständen Kleinverlage, Literaturzeitungen und Literaturprojekte zu einem Interview gebeten.

Die Edition ch wanderte seit Jahrzehnten von Verleger*innenhand zu Verleger*innenhand und produziert nicht nur transmediale Poesie, sondern verwickelt sich auch gerne in transnationale Kooperationen. Im Gespräch mit Herausgeber Günter Vallaster erfahren wir, wie es zur Gründung kam, über das Leben der Nischenwesen, serielle Kooperation, das Problematische am Begriff der »Avantgarde« und neue Formen künstlerischer Innovationen.

skug: Du leitest seit 2004 die Edition ch, die nicht nur ungewöhnliche Bücher macht, worüber wir später noch reden werden, sondern auch eine ungewöhnliche Geschichte hat. Man könnte sie als eine »Wanderedition« bezeichnen. Magst du etwas zur Geschichte der Edition ch erzählen?

Günter Vallaster: Ja, »Wanderedition« trifft es sehr gut! Die Edition ch ist mir damals buchstäblich zugefallen: Lisa Spalt, Herausgeberin von 1997 bis 2003, fragte mich nach einigen Buchbestellungen, ob ich überhaupt die komplette Edition übernehmen möchte. Durch Zeitablauf arbeitslos geworden und ohne konkrete Perspektiven sagte ich zu, nicht um mir davon eine lebenserhaltende Einnahmequelle zu versprechen, aber zumindest eine Lebensstruktur durch interessante Beschäftigung in einem spannenden literarischen Umfeld. Lisa Spalt erhielt ihrerseits die Edition ch von Franzobel, der sie ungefähr vier Jahre betreut hatte, und mit seiner Vorgängerin Christine Huber ist die Gründerin erreicht, die die Edition 1989 als »Galerie in der Schachtel« ins Leben gerufen hatte. Ihre Initialen sind bis heute als Editionsname erhalten geblieben.

Ich habe mir in Vorbereitung des Gesprächs den Begriff »serielle Kooperation« notiert. Kooperationen bestehen ja meistens, wenn etwas am selben Ort zur selben Zeit passiert. In diesem Fall gibt es keinen selben Ort, keine selbe Zeit, sondern eine zeitliche Abfolge. Besteht für dich so etwas wie eine Kooperation mit den Personen, die die Edition vor dir führten?

Mit meinen Vorgänger*innen habe ich kaum bis gar keinen Kontakt. Aber es gibt sozusagen eine serielle programmatische Kooperation: Mit Christine Huber, die sich als Autorin bis heute der experimentellen Lyrik und Prosa, visuellen Poesie und Kooperationen mit bildender Kunst und Musik widmet, wurde eine grundlegende Handschrift der Edition gelegt, die sich, natürlich in individueller Ausprägung, über alle bisherigen Herausgeber*innenstationen zieht. Die Edition ch versteht sich nach wie vor als Plattform und Kreativlabor für Konventionen hinterfragende, sprachreflexive Schreibweisen, transmediales Zusammenwirken von Poesie und besonders bildender Kunst sowie visuelle Poesie, Sprache als Bild und Partitur, die sich auch besonders gut für eine kreative Auflösung und Verbindung aller möglichen »natürlichen« und »künstlichen« Sprachen eignet. Dazu gibt es auch einzelne Projekte, die von Station zu Station weitergetragen wurden, vor allem der biennal erscheinende gemeinsame »Verwicklungsroman« von Ilse Kilic und Fritz Widhalm, dessen ersten Band Lisa Spalt 1999 herausgegeben hatte. Inzwischen halten wir beim zwölften Teil »Wir sind wir selbst und ich und du, wir sind Weide, wir sind Kuh«, der 2021 erschien.

© Edition ch

Einen Verlag oder eine Edition zu betreiben, ist für die literarische Welt essenziell, bringt aber nicht nur Freude, Jubel und Lob mit sich. Dennoch gibt es Menschen, wie dich, die es sich antun, diese Infrastruktur für Schreibende zur Verfügung zu stellen. Sie übernehmen bestimmte Aufgaben und Verantwortlichkeiten und manche, bei der Edition ch scheint es recht oft der Fall zu sein, geben diese nach einer Zeit wieder ab und weiter. Wie siehst du das für dich?

Die Edition ch war immer eine klassische Autor*innenedition, bei der die Herausgeber*innen auch selbst Autor*innen sind und Kolleg*innen, die meist auch künstlerisch mit den Herausgeber*innen kooperieren, Publikationen ermöglichen. Und da das eigene Schreiben ja auch Konzentration erfordert und sowohl das Schreiben als auch das Herausgeben zunächst einmal keine Lebensgrundlagen darstellen, stehen für die Edition nur begrenzte Zeitressourcen zur Verfügung. Meine Vorgänger*innen konnten sich über ihr eigenes Schreiben auch bessere Einnahmequellen erschließen. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich hauptsächlich als Sprachkursleiter, dazu kommen noch einige eigene Literaturprojekte, die aber nicht immer etwas mit der Edition ch zu tun haben. In der Edition ist, bis auf die mögliche Förderung von Druckkosten für einzelne Buchprojekte und Präsentationen, ohne die gar nichts erscheinen könnte, alles unbezahlte Eigenleistung. Für eine großflächige Bedienung des Buchhandels ist die Edition ch zu klein und sie ist ja auch gerade eine Plattform für nicht unbedingt marktkompatible literarische Zugänge.

Was ist dir – sowohl als Schriftsteller und als auch als Verleger – wichtig? Welche Art von Literatur möchtest du produzieren, veröffentlichen und warum eigentlich?

Obwohl die Edition ch ein kleines Nischenwesen ist, kann sie helfen, literarischen Stimmen eine Öffentlichkeit zu geben. Ein Buch liegt vor, ist bestellbar, präsentierbar, lässt sich in Veranstaltungen einbinden. Es gibt die eine oder andere Rezension oder sonstige mediale Wahrnehmung. Der Fokus liegt dabei auf poetischen Zugängen, die es ansonsten nicht so leicht haben und in deren Ecke ich auch selbst angesiedelt bin, dazu zählt vor allem die transmediale Poesie. Es freut mich besonders, dass aus meiner transmedial-poetischen Anthologiereihe »raum für notizen« gemeinsam mit Renate Pittroff, Christoph Theiler und Jörg Piringer als Mitkurator*innen und in Zusammenarbeit mit der Alten Schmiede, galerie wechselstrom und Kunsttankstelle Ottakring das Veranstaltungsformat »räume für notizen« entwickelt wurde, bei dem seit 2014 schon zahlreiche transmediale Poet*innen aus Österreich und zwölf weiteren Ländern aufgetreten sind und viele weitere Künstler*innen aus vielen weiteren Ländern ausgestellt haben. Auch die »Transmediale Poesiegalerie« der »Poesiegalerie« von Udo Kawasser, Monika Vasik und Peter Clar wird seit Beginn 2018 meist von mir als Kurator und damit mit Autor*innen mit Bezug zur Edition ch gestaltet, wobei ich eine kuratorische Erweiterung auf weitere Editionen und Autor*innen durchaus begrüßen würde. Mit den Edition-ch-Autor*innen konnte aber schon ein durchaus repräsentativer und vielfältiger Grundstock gegenwärtiger transmedial-poetischer Positionen erstellt werden.

Diese fabelhafte Welt der Nischenwesen ist es, die eine vielfältige Literatur wirklich werden lässt. Ich finde es auch wichtig, diese Nischen zu verbinden. Die transmediale Poesie scheint mir eine Form davon zu sein. Kannst du schildern, wie sie aussieht und funktioniert? Was sind zum Beispiel deine Zugänge?

Besonders interessant finde ich literarische Zugänge, die alle Aspekte der Sprache, vor allem den visuellen und klanglichen, also die Schrift und die Laute, akzentuiert einbeziehen. Daher ist es naheliegend, überhaupt Verbindungen zur Klangkunst und bildenden Kunst zu suchen, und über die Buch- und Veranstaltungsprojekte der Edition ch können sich nischenverbindende Netzwerke ergeben. Dabei war mir von Beginn an auch der Austausch über Sprachgrenzen hinweg wichtig: Die Reihe »raum für notizen« etwa startete 2006 mit der Anthologie »Grenzüberschneidungen. Peresečenija granic. Poesie Visuell Interkulturell« mit visueller Poesie aus Russland und Österreich, u. a. von Dmitrij Avaliani, Brigitta Falkner, Alexandr Gornon, Angelika Kaufmann, Gerhard Rühm, sowie dem Berliner Valeri Scherstjanoi, die ich gemeinsam mit der Petersburger Literaturwissenschafterin Juliana Kaminskaja herausgeben konnte. 2021 erschien von ihr in der Edition ch aus ihren langjährigen Forschungen und Übersetzungen zu sowie Begegnungen mit Friederike Mayröcker der Essayband » … VERWANDLUNGEN … Zu Friederike Mayröckers Scardanelli und anderen Gedichten«. Mit einem Umschlagbild von Lydia Kolpakova.

© Edition ch

In dieser Reihe spielt, zumindest als Aufhänger, die Bezugnahme auf die Avantgarde eine Rolle. Auch wenn viele zu Recht abwinkend reagieren, wenn sie dieses Wort hören, glaube ich, dass sie nicht einfach vom Tisch zu wischen ist. Im Sinne von experimentell zu arbeiten, neue Formen und Inhalte zu finden. Wäre in diesem Sinne die Edition ch eine Avantgarde-Edition oder braucht’s dafür einfach einen neuen Begriff?

Den Begriff »Avantgarde« verwende ich aufgrund seiner militärischen Herkunft eigentlich auch nicht. Die Suche nach neuen, überraschenden und unkonventionellen Ausdrucksformen ist aber durchaus ein wichtiger Impetus für die Edition. Künstlerische Innovationen gehen ja stets nicht nur mit gesellschaftlichen Fragen, sondern auch mit technischen Innovationen einher, aktuell sind dies vor allem Entwicklungen in der Informationstechnologie, etwa die AI. Aber letztlich stehen für mich die Menschen und ihre individuellen Stilmittel im Zentrum des Interesses und es ist nach wie vor so, dass auch mit Low-Tech, mit bloßen Händen sozusagen, oder nur mit Blättern und Stift ausgestattet hochinteressante Literatur und Kunst entstehen kann, die akkurat auf die Zeit reagiert und damit auch der Zeit voraus ist. Somit bin ich durchaus ein Anhänger eines Methodenpluralismus von Mixed Media. Dabei kann allein schon durch Stilkontraste Spannung entstehen.

Wie sehen die Pläne für 2022 aus? Auf welche Bücher und welche Veranstaltungen können wir uns freuen?

Als kommende Neuerscheinung der Edition ch ist der Lyrikband »Stille Kometen« von Angelika Stallhofer mit Illustrationen von Andrea Zámbori schon startklar. Einzeltitel können ansonsten in der Edition eher selten und dann nur mit aktiver Mitwirkung der Autor*innen bei der Buchrealisierung entstehen. Für Lyrik und Grafik werden aber durchaus immer wieder mal Initiativen gesetzt. Veranstaltungsmäßig stecke ich aktuell schon in den Vorbereitungen auf die »Schriftlinien«, mein weiteres transmedial-poetisches Veranstaltungsprojekt, das mit freundlicher Unterstützung der Grazer Autorinnen Autorenversammlung am 7. Juni 2022 bereits zum fünften Mal im Literaturhaus Wien stattfinden kann. 2021 ist dazu auch in der Edition ch eine dokumentarische Anthologie »Schriftlinien. Transmediale Poesie« mit Asemic Writing von Thomas Havlik als Coverbild erschienen. Diesmal werden Peter Bosch, Angelika Stallhofer, Achim Wagner und Andrea Zámbori auftreten. 2018 fanden auf Einladung des Lektoriums CULTURA von Juliana Kaminskaja und Anastasia Grokhovskaja und mit freundlicher Unterstützung des Österreichischen Kulturforums Moskau die »Schriftlinien: Wien – Sankt Petersburg Линии письма: Вена – Санкт-Петербург« auch am Goethe-Institut Sankt Petersburg statt. Dabei präsentierten Barbara Rieger und Alain Barbero ihren Literatur- und Fotoblog »Café Entropy«, das daraus entstandene Buch »Melange der Poesie – Wiener Kaffeehausmomente in Schwarzweiß« (Kremayr & Scheriau 2017) und den Film dazu von Cäcilia Then. Barbara Rieger, Andrea Zámbori und ich lasen und präsentierten Bilder aus eigenen Publikationen, ich stellte zudem auch die Reihe »raum für notizen« der Edition ch vor. Alain Barbero erstellte vor Ort Fotokunstporträts von Dascha Barabenova, Olessja Bessmeltsewa, Juliana Kaminskaja, Boris Konstriktor & Boris Kipnis, Anastasia Grokhovskaja und Sergei Kovalsky in dortigen Cafés, Sylvie Barbero-Vibet interviewte die Künstler*innen. Barbara Rieger, Andrea Zámbori und ich hielten im Café Botanika und in der Majakowski Stadtbibliothek die Schreibworkshops, die wir auch beim Berufsverband österreichischer Schreibpädagog*innen BÖS in Wien halten. Daran nahmen junge Studierende und Künstler*innen teil, vor allem Mitglieder der Literatur- und Performance-Gruppe »Čërnye Smorodiny« (»Schwarze Johannisbeere«). Alexander Nikitin hielt alles filmisch fest. Genau so stelle ich mir transmediale Projekte im internationalen Austausch vor. Die geplante Fortsetzung der »Schriftlinien: Wien – Sankt Petersburg« verschiebt sich mittlerweile aber schon seit zwei Jahren, zunächst wegen Corona und jetzt wegen des grausamen, diktatorischen Überfalls auf die Ukraine. Aber sie sind gerade vor dem Hintergrund der trüben Umstände ein ganz wichtiger Strohhalm, an den sich eins klammert und durch den Lichtblicke scheinen. Wir werden die Weiterführung des Projekts keinesfalls aufgeben. Wer Bücher von der Edition ch kaufen möchte – sie sind über die Homepage und Buchhandlungen bestellbar. Hier geht’s zur Homepage: https://guenter-vallaster.net/edition-ch/

© Edition ch
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