Ein guter Kinofilm kann authentische Bilder zeigen und eine Geschichte erzählen, welche die Zuschauenden reizt und rührt. In manchen Fällen passiert das sogar bei Porträts von Schicksalen, die einen selbst nicht sonderlich zu betreffen scheinen und womöglich gar befremden. Und doch entsteht mitunter Mitgefühl und diese Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen verschieben sich. Betritt man ein Kino, so gibt man zwangsweise seinen eigenen Blick für eine gewisse Zeit auf, und je nach Film werden alte Sichtweisen irritiert sowie neue Bildzusammenhänge gewonnen, wenn der Film subtil und innovativ erzählt. Oder: alte werden zementiert. Vielleicht zeigt das auch einfach nur, warum es sich lohnt, immer wieder neu zu erkunden, was menschliches Leid bedeutet. »Girl« von Regisseur Lukas Dhont aus Gent ist ein solcher Film, der die Zuschauer*innen schonungslos in eine andere Realität reißt und ihnen eine Wahrheit vorhält. Indem es das tut, bringt er uns dem Leben der Protagonistin einen Schritt näher und lässt uns beispielhaft teilhaben an der Einsamkeit und der Verzweiflung ihres Schicksals.
»Girl« handelt von Lara (Victor Polster), einem 15-jährigen Mädchen, das an einer der besten Ballettschulen des Landes studiert und sich gleichzeitig mit der Unterstützung des alleinerziehenden, äußerst liebevollen Vaters darauf vorbereitet, eine geschlechtsangleichende Operation durchzuführen. Nicht nur zeigt die Kamera ihre allerintimsten, verletzlichsten, einsamsten Momente. Während sie sich nach einem Umzug noch um ihren kleinen Bruder kümmert und allerlei Alltagsqualen als Transgender-Person erlebt, arbeitet sie äußerst hart an ihrer Karriere als Balletttänzerin, bis zur völligen körperlichen Selbstaufgabe. Im Verlauf der Hormonbehandlung verändert sich ihr Körper, allerdings sehr langsam. Viel schneller verändert sich ihre Persönlichkeit, nämlich die eines pubertierenden Mädchens. Da ist es schwer, Rücksicht zu nehmen, ja fast unmöglich, ihren Zustand, in einem falschen Körper zu stecken, zu akzeptieren. Der Balletttanz und ihre Arbeit am Körper selbst stehen miteinander in Verbindung: Sie hat ein großes Talent und wenn sie nur mit aller Mühe trainiert, kann sie ihr Ziel erreichen. Doch der Kampf gegen ihren Körper ist so gut wie aussichtslos, kaum zu gewinnen und nur mit viel Kraft, Geduld und Ausdauer überhaupt zu ertragen.
Es geht dem Film nicht darum, zu zeigen, wie Lara versucht, das perfekte Mädchen zu sein. Sie will einfach nur ein Mädchen sein, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Im Ballett dagegen ist Perfektion jedoch mehr oder weniger erstrebenswert. Das Ballett ist also bloß der Ort, an den sie flieht, um all das zu erreichen, was sie durch eigene Anstrengung bewerkstelligen kann. Es ist grausam, es ist unendlich traurig, zu sehen, wie sie sich selbst zerstört, und gleichzeitig beeindruckend, mit welcher Energie, welchem Willen und welcher Konsequenz sie doch weitermacht und ihre Ziele verfolgt. Es ist zum Verzweifeln, aber auch zum Weinen schön, ihrem aufopferungsvollen Vater zuzusehen. »Girl« ist keine Aufforderung, aufmerksamer zu sein oder Mitgefühl zu zeigen. Der Film ist nicht »moralisch«, jedoch zwangsweise, weil Film, in gewisser Weise idealistisch. Es ist eine Ode an das Medium Film in seiner besten Form und dessen Möglichkeiten, zu zeigen und zu bewegen, indem es eine ganz bestimme Sichtweise aufgreift, einen kleinen Ausschnitt zeigt, und sich auf eine Problematik beschränkt.
Was man dem Film vorwerfen kann, und das ist nicht unerheblich, ist eben genau diese »schonungslose« Fixierung auf das rein Körperliche, das durch die krasse Kameraarbeit fast ausschließlich im Fokus steht, in Bezug einerseits auf ihre Transformation und andererseits auf ihre Arbeit als Balletttänzerin. Es besteht nun eine gewisse Diskrepanz zwischen dem, was der Film will, und dem, was er tatsächlich macht. Lara will, wie gesagt, einfach nur normal sein. Ihr Glück: das hilfsbereite Umfeld. Ihr Pech: der Rest der Welt. Als Zuschauer*in ist man also gezwungen, nicht ohne eine gewisse »Lust«, die fast wehtut, ihr zuzusehen, wie sie an ihrem Körper leidet. Ergo: Mitleid zu fühlen. Und das ist mitunter doch recht heftig und irgendwo recht beschämend, weil ansonsten nicht so viel Raum gelassen wird für andere Facetten ihrer Persönlichkeit, die immer wieder an ihrem Körper die Grenze zu finden scheint und damit recht einseitig bleibt. Das könnte das Bild von Transpersonen doch hart verzerren. Dennoch sollte man sich den Film ansehen. Ästhetik und Repräsentanz- oder Diskursfragen sind zwar nicht ganz voneinander zu trennen, besitzen jedoch auf gewisse Art und Weise eine Autonomie. »Gutes Kino, schlechter Film?« Auf jeden Fall Anlass für wichtige Gespräche.