Während Europa sich im Zuge der COVID-19-Pandemie noch härter als zuvor auf seine Nationalgrenzen beruft, macht es Sinn, sich zumindest geistig die Absurdität dieser Grenzen vor Augen zu führen. Angesichts der kulturellen Hintergründe von Giorgi Mikadze wird einem unmissverständlich klar, wie kontingent diese Grenzen sind und wie Mensch und Kultur sich seit jeher in einem regen Austausch befinden. Klar, nichts Neues, aber derzeit steht einiges von dem, was wir als selbstverständlich erachten, auf dem Spiel. »Georgian Microjamz« ist ein Album, auf dem Giorgi Mikadze seine reichen Eindrücke erstmals miteinander auf einem Soloalbum zeigt. Spannend und frisch verquickt der aus Tiflis stammende Microtonal-Keyboarder also seinen georgischen Musikfundus, beeinflusst von christlich-orthodoxer Kirchenmusik, und ziemlich funkigen Jazz. An der Gitarre sein späterer Berklee-College-Lehrer David Fiuczynski. Am Bass der griechischstämmige Musiker Panagiotis Andreou (Now Vs Now, Mulatu Astatke etc.). Er bedient sich besonders der einzigartigen polyphonen Musiktradition seines Herkunftslandes, also dieser unzähligen Intervalle zwischen den 12 Tönen der westlichen Standardstimmung, die weniger als den handelsüblichen Halbtonabstand einhalten. Wie es der Zufall so will, bemächtigt sich auch Fiuczynski in seiner Jazz-»Fiuczion« dieser.
Sidefact: Eine der 29 Kompositionen auf der berühmten goldenen Schallplatte, die mit der »Voyager« ins All geschossen wurde, war – Überraschung – das georgische Volkslied »Chakrulo«. Ebenfalls Fans der georgischen Volksmusik: keine Geringeren als Anthony Bourdain (R.I.P.) und Igor Strawinsky (ebenfalls R.I.P.). Nun kann man auf »Giorgian Microjamz« wie im Opener »Metivuri« dem genannten Kirchenchor lauschen, der geht aber rasch über in elektronisch verstärkte Keyboardsounds, bevor zu »Dumba Dumba« gesprungen wird. Hier vermählen sich ein funkiger Bassgrundtenor mit Rhythmen im perkussiven Bereich, die auch an Westafrika und die Sahara denken lassen, und zudem schweift man immer wieder ab in richtig klassisch klingendes Prog-Rock-Getrickse. Besonders stark, wenn dieses kulminiert und mit georgischem Gesang verstärkt richtig einheizt, höre »Elena«. 2008, während der Olympischen Spiele in Peking, bombardierte Russland im Zuge des Kaukasuskrieges Georgien. In dem eindrucksvollen Klagelied »Moaning« besingt Nana Valishvili dieses Ereignis. Doch »Moaning« ist kein trauriges Klagelied, sondern ein kämpferischer Rock-Song, der seltsam, aber angenehm aus der Zeit geraten scheint. Microtonale Musik hat ja wegen dieser ungewohnten, irgendwie schrägen Töne schon etwas Verqueres. Wenn es dann noch um Blues geht, wie in »Kartlos Blues«, dazu der Fretless-Bass und die krächzenden Gitarrensoli, dann wird einem anders zumute. Der letzte Song, »Tseruli«, ist vielleicht der eindringlichste und schreibt sich widerstandslos in die Hirnrinde. Durchaus einzigartige, die eigenen musikalischen Grenzen in Frage stellende und äußerst anregende Musik.