Verschwommen und flirrend erscheint das Bild. Die starken Farben springen ins Auge. Es zeigt die Aussicht aus einem Korridorfenster in Theresienstadt 1944. Kaum sind Linien zu erkennen, aber die Farben leuchten. »Haus L410. Aussicht aus dem Korridorfenster von Friedl Dicker Brandeis Zimmer, 1944«, steht dabei. In der Ausstellung »Friedl Dicker-Brandeis. Bauhaus-Schülerin, Avantgarde-Malerin, Kunstpädagogin« im Linzer Lentos sind ihre Landschaftszeichnungen zu sehen: Sie erscheinen geordnet, eher klassisch anmutend, viel Grün und Braun. Die Natur ist gut zu erkennen. Doch dieses einfache Erkennen hört sich in Theresienstadt auf. Die Farben bleiben übrig.
Die lichtdurchlässige Decke im Lentos gibt das Spiel von Licht und Schatten weiter, von der Sonne in den Museumsraum hinein. Im hintersten Raum sind die Zeichnungen verschiedener Kinder aus Theresienstadt zu sehen. Diese Theresienstädter Kinderbilder stammen aus dem NIOD, Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien in Amsterdam (Sammlung BC 438). Der Junge Petr Freund aus dem »vierten Blok«, wie auf der Zeichnung steht, hat die Leichenträger verewigt. Das Bild heißt »Leichenschauhaus 1943/44, Bleistift auf Papier«. Die Hausbezeichnung »Leichenkammer« schreibt er mit einem M.: Leichenkamer. Man kann schwer glauben, dass dieser Junge zu dem Zeitpunkt bereits elf Jahre alt ist, denn er zeichnet seine Strichmännchen ähnlich einem Kleinkind. Petr Freund hat überlebt. In dem Film »Vom Bauhaus nach Theresienstadt« von Elena Makarova erzählt Petr Freund als alter Mann, dass Friedl Dicker-Brandeis ihm einmal sagte, dass der Raum um den Menschen so eng sei, dass er sich Löcher machen müsse. »Löcher, wie in einem Emmentaler-Käse, damit er atmen kann. Die Idee ist fantastisch, man wird so erdrückt«, lächelt er in der Erinnerung.
Aufdeckung der Erschütterung
In einem Glaskasten ist ein Faksimile der handschriftlichen Aufzeichnungen des Manuskriptes »Essay über Kinderzeichnen«, das Dicker-Brandeis von 1942 bis 1944 in Theresienstadt schrieb, zu sehen. Es stammt aus dem Jüdischen Museum in Prag. »Der Zeichenunterricht will nicht alle Kinder zu Malern machen, aber vor allem das Schöpferische, Selbstständige als Energiequelle behalten«, steht darin. »Das Kind sei frei auszudrücken, was es über sich zu sagen hat. Wir gewinnen so einen unschätzbaren Rückblick zum Teil in die Ereignisse selbst (hier ist die Hilfe der Psychologen erwünscht).« Die Künstlerin arbeitet auch mit rhythmischen Übungen: Das Ziel liege in der Aufdeckung der Erschütterung. In dem Film »Milan, Irena und Libor« (1996–2001) von Elena Makarova sieht man winziges Spielzeug, wie ein Mobile, in der Luft hängen. Diese kleinen Teilchen schnitzte Libor Eisler mit einer Säge in Theresienstadt. 2002 waren sie in der Ausstellung im »musee d‘art de judaisme« in Paris zu sehen.
Sein Bruder Milan zeigt ein gemaltes Porträt des Jungen Pinschl her, der von Theresienstadt ins Konzentrationslager gebracht wurde. »Ich habe oft an ihn gedacht, ich weiß nicht warum«, sagt Milan. »Eine Sammlung solcher Zeichnungen ist eine Mahnung und Warnung an die Menschheit, die sich dessen bewusst sein muss, dass der Krieg mit seiner Grausamkeit auch ganz kleine Kinder physisch und psychisch in unmenschlicher Art und Weise verletzt und dass die für niemanden begreifliche Verwilderung des Menschen, der grausam seine Mitmenschen vernichtet, sich in der verblüfften Psyche des Kindes widerspiegelt und hier tiefe und moralische Schäden für das ganze Leben hinterlässt«, schrieb der polnische Kinderkunstforscher Stefan Szuman.
Seelische Lockerungsübungen
Es ist unglaublich, wie schnell tolle Kunstwerke entstehen können. Ein Paar Übungen nach Friedl Dicker-Brandeis und schon hängen großformatige Zeichnungen an den Stellwänden und liegen auf dem Boden. An den Workshops zur Ausstellung nehmen auch ukrainische Flüchtlinge aus Odessa teil. Elena Makarova, die bereits 1977 begann, mit Dicker-Brandeis’ Methoden zu arbeiten, empfängt die Besucher*innen mit lauter Musik. Später zeigt Makarova Fotos eines Kunstworkshops mit ukrainischen Flüchtlingen her, die Ende März in Warschau entstanden. »Die gemeinsame Kunst war eine Befreiung für die Flüchtlinge«, meint sie, »sie fühlten sich wie Hunde und im Kurs lächelten sie das erste Mal wieder.« Lockerungsübungen für die Seele. Ihr Ziel war es, zu zeigen, dass »wir in einer großen Welt leben, die sich Kultur nennt – alle miteinander«.
Friedl Dicker-Brandeis hatte bei dem Kunstpädagogen Franz Cizek studiert, dann bei dem Schweizer Maler und Kunsttheoretiker Johannes Itten am Bauhaus, zwei Heroen der Kunstpädagogik. Sie hätte ein Visum für Palästina gehabt, folgte aber ihrem Mann Pavel Brandeis nach Auschwitz. Er überlebte, sie leider nicht. Das Museum Lentos restituierte in den letzten Jahren dreißig Kunstwerke aus der Sammlung, die von dem berühmt berüchtigten Sammler Gurlitt stammten. »Ein Museum ist auch ein Ort, der verletzt. Ein Museum soll ein Ort zum Verhandeln von Gewaltgeschichten sein. In dem es gelebte Trauerarbeit gibt, statt nur ein Eintauchen in den Holocaust«, wünscht sich eine der Organisatorinnen und Kunstvermittlerinnen am Ende des ereignisreichen Tages. Die Ausstellung im Lentos ist noch bis 29. Mai 2022 zu sehen.