Visuelles Traumprotokoll © Sepp Wejwar mit Nutzung von Midjourney
Visuelles Traumprotokoll © Sepp Wejwar mit Nutzung von Midjourney

Freie Bahn dem Unbewussten

Von der »kosmischen« Eingebung bis zu verschiedenen Tools und Techniken zur Unterstützung der surrealen Schaffensprozesse in Wort, Bild und/oder Ton – ein durchaus praktischer Beitrag zu unserer Serie »100 Jahre Surrealismus«.

Die Breton’sche Surrealismus-Definition lautet: »Reiner psychischer Automatismus, durch den man den wirklichen Ablauf des Denkens mündlich, schriftlich oder auf jede andere Weise auszudrücken sucht.« Hat eigentlich schon jemand darauf hingewiesen, dass in dieser vielzitierten Surrealismus-Definition ein Paradoxon steckt? Da soll also das Überwirkliche hergestellt werden, indem dem Wirklichen (bzw. dem wirklichen Denken) freie Bahn verschafft wird. Vielleicht denkt der Autor dieser Zeilen zu viel, »formuliert«. Denn im Surrealismus geht es ja gerade darum, nicht bewusst zu denken oder gar kunstvoll zu formulieren. Um das »absichtsfreie Spiel des Denkens« auszulösen, wurden schon zu den Hochzeiten der Bewegung unterschiedliche Techniken angewandt. Einigen von ihnen ist der heutige Beitrag gewidmet.

Kreativtechniken und Verfahrensweisen

Automatismen: Schreibende protokollieren einen Wort-Strom. Derselbe entsteht idealerweise im Unterbewusstsein (und aus kosmischen Eingebungen). Absichtsvolles Formulieren ist streng verboten. Ertappt sich die oder der Schreibende, Malende oder Komponierende dabei, nun doch Text, Bild und/oder Ton bewusst gesetzt zu haben, muss das nächste Wort mit einem vorher festgelegten Buchstaben beginnen, der nächste Ton ein vorab fixierter sein – oder es werden andere Maßnahmen ergriffen, die geeignet sind, die Willkür wieder auszuschalten: Methoden, welche den*die Schöpfer*in wieder zum inneren Automatismus zurückführen. (Siehe Gedicht am Ende dieses Beitrags.)

Traumprotokolle: Die meisten von uns träumen, womöglich täglich, staunen über die fantastischen Bilder und Töne, welche unsere Träume erzeugen. Wir können sie für uns retten – indem wir Protokollwerkzeug beim Bett bunkern. Stift und Papier zum Beispiel, oder ein Diktiergerät. Ein Traum will noch in der Aufwachphase festgehalten werden, sonst verflüchtigt er sich rasch. Das Ganze funktioniert auch in die andere Richtung. Louis Flamel formuliert: »Nehmen wir das Gefundene und bauen wir daraus einen Traum.«

Schaffen im Fieber: Hohes Fieber, also 39° Celsius und (deutlich) mehr, kann massiven Einfluss auf Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit haben. Was Ärztinnen als Zustand der Verwirrung betrachten, kann sich als Anschub für Kreativität entpuppen; Im Fieber entstehen besonders intensiv gefärbte surreale Bilder und Texte. 

Schaffen unter Drogeneinfluss: Aus verständlichen Gründen wird hier von dieser Methode abgeraten: dem Versuch, Kunst zu schaffen, unter dem Einfluss von bewusstseinserweiternden Substanzen.

Die paranoisch-kritische Methode: Salvador Dalí erfand diese Vorgangsweise. Mit ihrer Hilfe führte er – ohne den Einsatz von Chemikalien – einen mentalen Zustand von Halluzinationen herbei. Auf diese Weise konnte er der Realität entfliehen und Visionen erleben, die er dann in Kunst umsetzte.

Salvador Dalí © Allan Warren, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Kreativtechniken in der bildenden Kunst

Weitere Techniken, die sich (vor allem oder ausschließlich) für das Erschaffen eines bildenden Kunstwerkes eignen:

Fumage: Wolfgang Paalen (1905 bis 1959), ein dem breiten Publikum kaum bekannter Maler und Bildhauer, war einer der wichtigsten Österreicher unter den Surrealisten. In den 1930ern arbeitete er in Paris, begann dort Bilder mit Kerzenrauch (Fumage) zu malen, die er später in Öl finalisierte. Ein für ihn wichtiges Thema stellten halluzinative Wahrnehmungserlebnisse dar, »die halluzinatorischen Sicherheiten, die mich leben lassen«, wie er in einem Brief an Breton schrieb. 

Frottage: Eine Technik der Abreibung: Ein Blatt Papier wird auf eine raue Oberfläche, zum Beispiel Holz oder groben Stoff, gelegt. Die Struktur kann mittels Bleistift oder Kreide übernommen werden. Die Frottage ist eine alte chinesische Methode. Der deutsche Maler Max Ernst, einer der bedeutendsten Surrealisten, hat sie zu neuem Leben erweckt.

Grattage: Die Grattage überträgt die Frottage auf die Ölmalerei. Max Ernst gilt als Erfinder dieser Technik.

Décalcomanie: Farbabklatsch. Nicht mit Druck zu verwechseln. Es gilt, durch die Décalcomanie Neues zu schaffen und nicht etwas zu vervielfältigen. Die Technik stammt aus dem 18. Jahrhundert und wurde vom Surrealisten Óscar Domínguez aufgegriffen; auch von Max Ernst.

Oszillation: Oszillation, auch Drip-Painting, ist eine Methode in der Malerei, bei der Farbe etwa durch Schwingung auf den Malgrund getropft wird. »Schüttbilder« entstehen durch eine verwandte Verfahrensweise.

Collage: Dieser weithin bekannten Methode, bei der Bildschnipsel zusammengeklebt werden, haben sich auch die Surrealisten gerne bedient. (Colle, frz. = Leim). 

Collage © Foto von Frederik Danko auf Unsplash

Seed-Techniken und Random-Generatoren

Musik, speziell die elektronische Musik, bietet heute eine unübersehbare Fülle von Möglichkeiten, surrealistisch zu arbeiten. Die im März 2024 erschienene Version 12 des Ableton-Programmes Live bietet mit Funktionen wie Seed und diversen Random-Generatoren schon in der Pianoroll neue Chancen, in Sekundenschnelle musikalische Muster zu kreieren. Darüber hinaus gibt es zahllose Instrumente und weitere Plug-ins von Max for Live, die dabei helfen, das bewusste Komponieren hintanzustellen. Etwa Rhythmorphic von Dillon Bastan, der auch Inspired by Nature, eine Sammlung von visuellen Klanggeneratoren geschaffen hat.

Kollektive Improvisation

Ausschließlich mit »klassischen« Instrumenten, wie Saxofon, Schlagzeug, Trompete etc., aber auch gemeinsam mit elektronischen Instrumenten wird frei improvisiert. Anstöße der Mitmusiker*innen werden spontan aufgenommen, sie reizen das Spiel an. Auch dabei kann man in den »Flow« geraten, den tranceähnlichen Zustand, wie ihn Mihály Csíkszentmihályi (1934–2021) beschrieben hat. Ein Beispiel dafür liefert das grenzübergreifende Künstler*innen-Netzwerk FreeForms Of Arts. Personen aus dem mehr als 200 Kunstschaffende fassenden Pool kommen zusammen, um gemeinsam frei zu improvisieren. 

Cadavre exquis

Cadavre exquis ist eine spielerische Form kollektiven Textens oder Zeichnens. Dabei wird ein Satz oder eine Zeichnung von mehreren Personen erstellt und zwar ohne dass jene Person, die gerade an der Reihe ist, weiß, was die vorher aktiven geschaffen haben. Bekannt ist das Spiel mit einem Blatt Papier, auf dem der*die Erste ein paar Worte schreibt, es dann faltet, damit das Geschriebene nicht zu sehen ist. Die*der Nächste schreibt wieder eine Zeile und faltet, und so weiter. 

Die Surrealisten haben ihre Methoden entwickelt, um sich mit ihrer Kunst über die Gesetze von Logik und Vernunft, sich über das Reale zu erheben: Sur-Realismus, Über- (dem) Realismus. Alle Prozeduren haben eines gemeinsam: Sie sollen mithelfen, das bewusste Komponieren auszuschalten und an dessen Stelle die Kräfte des Unterbewussten und des Zufalls (Manche würden sagen, jene des »Kosmos«) wirken zu lassen. Einige dieser Verfahrensweisen lassen sich miteinander verknüpfen. Viel Spaß beim Ausprobieren!

Beispiel für ein Gedicht, verfasst mit der Technik »automatische Schreibweise«:

Marillen aus Marseille (Danke, Domke)

Seitab, landein,
fast menschenleer.
Die Beine taten es nicht mehr.

Schmeicheln, stehlen?
Ein Stück Brot,
hoch ummauert, leer gedroht.

Zärtliches Braun
bergwärts geschritten.
Bagatellen? Große Bitten!

Bleiern, beißend
der Steine Schnitt.
Durchs Schlüsselloch der Eremit.

Gefahr getanzt.
Ein zweiter Hund.
Semiramis im schwarzen Schlund.

Der Mut, der Stolz,
wer das versteh’.
Ich ess Marillen aus Marseille.

(Sepp Wejwar, 2019)

Quellen:

  • André Breton: »Die Manifeste des Surrealismus«, Hamburg, 1968
  • Winfried Konnertz: »Max Ernst«, Köln, 1980
  • Michail Lifschitz: »Krise des Häßlichen«, Dresden, 1972
  • Maurice Nadeau: »Geschichte des Surrealismus«, Hamburg, 1965
  • Andreas Neufert: »Auf Liebe und Tod. Das Leben des Surrealisten Wolfgang Paalen«, Berlin, 2015
  • José Pierre: »Lexikon des Surrealismus«, Köln, 1974
  • Meryle Secrest: »Salvador Dalí«, Bern, 1986

Link: 100 Jahre Surrealismus

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