Cristi Puiu war mit seinen Filmen »The Death of Mr. Lazarescu« (2005) und »Aurora« (2010) ein wesentlicher Akteur des Neuen Rumänischen Films. Dem 2016er »Sieranevada« folgt jetzt das enigmatische »Malmkrog«, dessen Titel klingt, wie der Film ist: wie ein riesiger, schwerer Stein. Doch der Brocken, den Puiu präsentiert, ist nicht roh, sondern von feinster Hand bearbeitet.
Die Grenzen des Humanismus
Grundlage für den dreieinhalb Stunden langen Film sind Wladimir Sergejewitsch Solowjows »Drei Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der Weltgeschichte«. Dabei handelt es sich um eins der maßgeblichsten Werke russischer Philosophie des späten 19. Jahrhunderts, das sich mit den Problemen und Aufgaben des Fortschritts der Menschheit, der moralischen Frage des Krieges, dem Widerstand gegen das Böse beschäftigt. Im Sinne Tolstois wird der Einfluss der Kirche auf den Glauben besprochen, neue Werte werden thematisiert. Neue Werte, das heißt, eine Welt, in der quasi nichts mehr heilig ist, was vorher heilig war. Kritik an Gewalt, wenn Krieg nur mehr ein notwendiges Übel ist und niemand mehr freiwillig zum Militär geht. Eine düstere Welt, in der einem nur mehr die Hoffnung bleibt auf den Sieg der Vernunft im Leben.
Diese Gedanken haben nichts an ihrer Aktualität verloren. Gerade der Fakt, dass Puiu sie von eine Gruppe aus der Zeit gefallener Aristokrat*innen vortragen lässt – allen voran Nikolai (Frédéric Schulz Richard), der haargenau dem Bild des Montesquieu gleicht, wie er auf den Ausgaben von Huysmans berühmtem Roman zu sehen ist – lenkt die Aufmerksamkeit auf den Inhalt der stilistisch hochgestochenen Konversationen. Die sind, wie es die Zeit und der Ort und seine Bewohner*innen wollen, multilingual, auf Russisch, Französisch, Ungarisch, Rumänisch und Deutsch, in der Tiefe, wie man sie von Dostojewskis epischem »Die Brüder Karamasow« kennt. Es sind Persönlichkeiten, die sich mit der Idee von Europa (»Europe is a notion«) auseinandersetzen, mit dem Humanismus, dessen Grenze spätestens dann erreicht wird, wenn einer von ihnen Asiaten oder Schwarze als Barbaren und nicht-menschlich bezeichnet. Humanismus ist am Ende nicht für die Leute, sondern nur für die Menschen (»Die Sterne am Firmament strahlen alle unterschiedlich hell«).
Rassismus und Moral
Und diesen Menschen hört man hier in diesen langen Stunden gerne zu, wie sie ihre Gedanken so schön verpacken wie die Räumlichkeiten, in denen sie sich bewegen. Wie sie zwischen Idealismus und Pragmatismus schwanken (»Pray, and don’t forget to wash yourself«), von den höheren menschlichen Wesen sprechen, mit Parabeln um sich werfen. Und obwohl ihre Gedanken den zeitgemäßen Rassismus, Antisemitismus und die Misogynie aufweisen, denen man über weite Strecken nicht zustimmen wird, so sind die Fabulierungen über Nationalismus, das Böse, Herrschaft und Moral doch so schön choreographiert, dass sie einen in eine scheinbar längst vergangene Zeit werfen und dabei zeigen, dass sich seitdem nur die Ausdrucksweise gewandelt hat.
Nach dem kaum fassbar schönen Beginn, wo man bloß eine verschneite Landschaft und ein einsames, herrschaftliches Haus sieht, bis ein Schäfer mit seinen Schafen den Garten durchpflügt, folgt man drei Stunden lang ernsten, tiefsinnigen Gesprächen schönster und bester Schauspieler*innen. Lediglich kurze Unterbrechungen zeigen, dass hier doch nicht alles mit rechten Dingen zugeht, dass es doch nicht einfach ein verfilmtes Drama ist: Es ist die Stelle, an der, völlig unverständlich für die Figuren im Film (und das Publikum ebenso), so etwas wie Jazz-Musik aus einem Nebenraum ertönt. Oder die Stelle, wo sie völlig vor den Kopf gestoßen sind, dass trotz mehrfachem Läuten kein Diener erscheint. Diese Irritation! In diesem Ambiente, dieser Angespanntheit ist das purer Wahnsinn, narratologisch und filmisch. Ein ziemliches Ereignis.
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