Foto: Artbiennale Venezia, Deutscher Pavillon
Foto: Artbiennale Venezia, Deutscher Pavillon

Christoph Schlingensief – Meine Angst gehört mir

Wohin führt es, Kunst zum Thema »Angst« zu machen? Christoph Schlingensief ging durch seine Furcht hindurch und erreichte Afrika. Ûber die Suche nach Schutzpersonen, Gottvater und Sohn, den Esel von Jesus und was das alles mit Kunst zu tun hat.

Diese Stimme habe ich noch immer im Ohr: »Bitte, bitte, nicht berühren!« Eindringlich und wie ein Kind, das alleine gelassen vor sich hin klagt. Verzweifelt und voller Schmerzen. Es tat weh, die zu hören. »Bitte, bitte nicht berühren … « Das Krankenbett mit dem Galgen stand vorne am Altar, bei der Sakristei, zusammengeklappt, leer, weiß, auf seine Bestandteile reduziert. Weißer Marmorboden. Die hölzernen Kirchenbänke waren voll mit Besuchern, die in sich versunken sprachlos im Halbdunkel um sich schauten, versuchten die vielen unterschiedlichen Bildquellen und Eindrücke auf die Reihe zu kriegen. Christoph Schlingensiefs »Kirche der Angst« auf der letzten Biennale in Venedig hatte nichts Pathetisches an sich, nichts »Falsches« – das war Kunst zum Thema »Angst« – klarer, reiner, reduzierter Angst mit dem Namen Verzweiflung. Momentane Verzweiflung birgt noch die Hoffnung in sich, Angst ist dehnbar ins Unendliche. »Bitte, bitte, nicht berühren«, weint die Stimme Schlingensiefs und es laufen Filme, die seinen kleinen Vater zeigen, der in einem alten Schwarzweiß-Film in einem weißen Anzug und einem riesigen Schild, auf dem »PAIK« steht herum läuft. In einem Garten. Nam June Paik? Paix, mit einem X, das wie ein K aussieht? Auf einem ähnlichen, aber realen Schild steht »L’amour et la paix«.
Schlingensiefs »Church of Fear« überkreuzte überhaupt großartig die große Kirche mit ihrem gewaltigen Gott-Vater mit dem kleinen irdischen Familien-Vater, der die Funktion einer Schutzperson mehr schlecht als recht erfüllen kann, wenn er immerhin kein Gewalttäter oder Missbraucher ist. Schlingensief ist jetzt da, wo er keine Schmerzen mehr hat. Es bleibt die Frage: Wer kann einen schützen vor drohenden Gefahren? Gibt es jemand, der das kann? Oder ist die Suche nach Schutz hoffnungslos, besonders bei Katastrophen wie Krebs oder anderen Lebens-Einbrüchen? Und wie geht die Kunst damit um? Manche und nicht nur KünstlerInnen bleiben auf dieser Ebene stecken und suchen ihr Leben lang nach Schutzpersonen, Gott-Vater und Sohn, an der falschen Stelle (dem Kurator, der mächtigen Galeristin, dem Museumsdirektor …). Da sie keine Schutzpersonen kennen, können sie auch keine er-kennen, bzw. senden die falschen Zeichen aus und falsche Töne und Gesten und Ûbergriffe kommen zurück. »Bitte, bitte, nicht berühren!«
Schlingensiefs unmögliche oder mögliche Schutzperson starb vor ihm, 2007. 2008 wurde er krank. Der deutsche Pavillon der Biennale Venedig wurde bereits nach seinem Tod von seiner Witwe hergerichtet. »Fürchtet euch!«, rief Schlingensief bei seinen Umzügen im Rahmen der »Church of Fear« in Frankfurt in die Menge. »Es ist eure Angst, die gehört euch und niemand anderem. Lasst sie euch nicht weg nehmen! Fürchtet euch!« und ein kleiner Junge hätte spontan gerufen: »Nö!« (nach »Kunst und Nichtkunst. Das Theater von Christoph Schlingensief« von Catherina Gilles, Königshausen & Neumann, Würzburg 2009)

Das flüchtige Unglück

»Egomania« steht auf dem Deutschland-Pavillon statt »Germania«, so wie auf dem österreichischen einmal »Trauma« stand statt »Austria«. »Warum hast du mich verlassen?«, hört man gleich, wenn man ins Innere des hohen Raumes, der als Kirche gestaltet ist, tritt. »Papaaa, was ist das, das ewige Leben?« »Vater Gott auf Sohn Gott … «. »Are we the thoughts of a madman?« Klage und Verzweiflung und Trauer. Ganz oben sieht man verrückte bunte Glasfenster, irgendwie anders als in einer Kirche. »Sind wir das flüchtige Unglück, wenn zwei Liebende aufeinander treffen?« Ob man auch aus Liebe in einer Kinder-Persönlichkeit stecken bleiben kann, oder nur aus Gewalt-Gründen? »Sind wir ein geheimer Gedanke? Ich weiß es nicht. Ich hab‘ keine Lust mehr. Ich will kein Stellvertreter sein. Ich wollte das früher nicht und jetzt erst recht nicht.« Diese theatrale Figur hat die Nase voll von den institutionalisierten Schutzpersonen. »Jesus ist nicht da und Gott ist nicht da und es ist alles ganz tot und alles kalt und es ist keiner da und das ist gut so«, spricht die Stimme in der falschen Kirche. Das erinnert mich an Elias Canetti, der in seinen Aufzeichnungen (1942-48) meint, dass wir Gott mit unseren Taten vertrieben haben, dass Gott vor uns auf der Flucht ist und sich versteckt hält: »Der Kreide Gott, der sich aufzeichnet.« (»Das Geheimherz der Uhr, Aufzeichnungen 1973-1985«, Fischer TB 1999) Sein Lebenswerk, die Sammlungen aus der ganzen Welt vom Kampf gegen den Tod, seinem Todfeind, veröffentlichte Canetti nicht mehr.
Auf einem anderen Schlingensiefschen Schmalspurfilm sieht man ein Kind, das sich einseift, es ist eine alte surrende Projektion. Geräusche sind eingekehrt auf die Biennale. Stammen diese Filme von Schlingensiefs Vater? Röntgenbilder hängen in Glasrahmen. »Nichtigkeit«, tönt die Stimme. »Denk‘ an deinen Schöpfer, bevor die bösen Tage kommen und du sagen wirst, das gefällt mir nicht.« Wie von einem Untoten, der sich beschwert. Ein Gespenst beklagt sich: Wo ist hier die Beschwerdestelle? »Wer sich fürchtet vor dem Weg auf die Anhöhe … Der Mensch wird in sein ewiges Haus gehen. Nichtigkeiten!« »Bitte berühre mich nicht«, fleht ein anderer. Die englische Ûbersetzung erscheint groß auf TV-Schirmen: »All is nothingness.« Schöne Frauenstimmen singen hoch: Misercordia. Her nothingness?

Exkurs: Gottvater in Bukarest

In Bukarest in der Synagoge sah ich zum ersten Mal einen Vorbeter, der mit den Rücken zu den Besuchern in einem Umhang mit Kapuze auf wortgewaltig und lautstark Gott anklagte, sich ohne Ende bei ihm beschwerte – im jüdischen Glauben ist das erlaubt. Es war trotzdem ein Schock. Anklagend den Arm erhoben, den Zeigefinger in die goldene Kuppel streckend, beschwerte sich dieser Vorbeter bei seinem Schöpfer. Man sah nur seinen Umhang von hinten. Die Vorbeter beten am Versöhnungstag in den »Kitteln«, die später ihr Totengewand sein werden, steht im babylonischen Talmud. Später war der gesamte Wiener Jüdische Chor beim Bukarester Gemeindevorsteher zum Festmahl eingeladen. Lange Tische mit weißem Tischtuch und festlich geschmückt und schönes Geschirr. Und Gesänge. Und plötzlich der Gemeinde Vorsteher, der seinen Schuh auszieht und bei einem Lied immer wieder auf den Tisch haut. Rhythmisch und brutal. Genau in diesem Moment brach für mich, warum auch immer, der kindliche Gott Glaube in sich zusammen und hinterließ ein Häufchen glimmender Asche. Der Verlust wurde mir bewusst und ich lief hinaus auf die Straße. Kein »lieber Gott«, der einen beschützt und behütet, sondern ein böser Gott, der einen quält und schlägt? Und »prüft« statt unterstützt? Wie in einem Gedankenblitz wurde mir klar, dass man meinen Vater, der als Kriegskind einzig die Flucht erlernte, bei Problemen meistens nur von hinten sieht. Auch nicht gerade eine Kinder-Schutzperson. Der israelische Soldat mit der Maschinenpistole, der die jüdische Gemeinde im jüdischen Teil von Bukarest beschützt, tröstete mich und ließ mich an seiner Brust heulen. Seine Sonnenbrille schob er sich auf die Stirn. »Wird schon nicht so schlimm sein«, sagte er immer wieder und klopfte mir auf die Schulter. Die Maschinenpistole baumelte an ihrem Riemen über seine Schulter.

Pictures, Donkies, Jesus Christ

Schlingensief zeigte diese starke Trauma-Energie, die aus sich selber schöpft, gewaltige Kräfte entwickelt und frei setzt, aber irgendwann erschöpft ist. Er kämpfte ständig darum neue Bilder zu erarbeiten, zu erspielen, Imaginationen zu erleichtern, zu erweitern – eine Fülle von Bildern, ein Füllhorn. Jesus, der auf einem Esel in Jerusalem einreitet … Schon als Kind fragte ich mich nach Betrachtung entsprechender Abbildungen, was macht der große starke Jesus-Mann mit den langen Haaren auf diesem kleinen, dünnen, schwachen Esel? Quasi Tierquälerei. Schlingensief lief als Jesus verkleidet neben seinem Esel ein. »Mimetische Einverleibung des Bildes vom Gottessohn auf dem Weg in die heilige Stadt, die sein Tod ist. Dies ist mein Leib«, schreibt Gilles.
Schlingensief lief durch seine Angst, seine Ängste durch, überrundete sie und schaute hinter die Verzweiflung im Angesicht des Todes. Er ging mit seiner Kunst durch seine eigene Angst hindurch, immer wieder und was kam dann hinter der Angst? Afrika. »Afriga«, wie die Österreicher sagen – sein gelobtes Land. Und da lebte er noch eine Weile und veränderte was. Canettis Vater starb vor seinen Augen, als er ein Kind war. Die Familie war gegen die Wünsche des Großvaters nach England ausgewandert. Der Großvater kriegte einen Schock, denn er hatte seinen Sohn verflucht. »Vater, Vater, warum hast du mich verlassen«, fragt Jesus im entscheidenden Moment und Schlingensief in seinem Pavillon fragt das ebenfalls. (Canetti: »Auf dem Weg zu seinem Gott ist noch jeder verschmachtet.«) Auch wenn ich kein »Jesus Christ Fan bin und nie an ihn glaubte, finde ich die Frage berechtigt und es ist sehr wichtig, dass man künstlerisch zu diesen alten Mythen arbeitet. Wie kann »man? sein Kind für alle Menschen opfern? Schon als Kind wehrte ich mich dagegen, dass wer »für mich« gestorben sei. Ich will nicht, dass wer für mich stirbt. Jesus oder sonst wer, wurscht.

Das Leben mehr inszenieren und in die Kunst mehr Leben rein lassen. »Brecht sagte von diesen Alltagsinszenierungen, dass sie in dem Vergleich zu dem, was in der Kunst, speziell im Theater gemacht werde, in der Regel »stümperhaft« seien und dass das Theater keine Kopie der Realität sei, sondern die Realität eine Kopie eines Theaters, und zwar eine schlechte«, schreibt Carl Hegemann in dem Buch »Schlingensief! Notruf für Deutschland. Ûber die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief« (herausgegeben von Julia Lochte und Wilfried Schulz, Rotbuch Zeitgeschehen 1998). Schlingensief würde soziale Realitäten uminszenieren und die »amateurhaft geschriebenen, oft schlecht erinnerten und halbherzig umgesetzten Alltagsdrehbücher nach den Gestaltungskriterien künstlerischer Arbeit verbessern, d. h. lebenswerter machen.« Canetti würde das anders ausdrücken: »Die Menschen können nur einander erlösen. Darum verkleidet sich Gott als Mensch.« (Aufzeichnungen 1943-1948)  

»Knistern der Zeit« (Regie: Sybille Dahrendorf) über Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso wird derzeit im Wiener Filmhaus am Spittelberg um halb zehn Uhr abends bis 1.11.2012 gespielt. Sehr empfehlenswert!
www.stadtkinowien.at

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Text
Kerstin Kellermann

Veröffentlichung
28.10.2012

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