Innenansicht der Weltraumstation Stanford Torus von Rick Guidice, 1975 © NASA Ames Research Center
Innenansicht der Weltraumstation Stanford Torus von Rick Guidice, 1975 © NASA Ames Research Center

Bilder für Utopien finden

Wer sich eine bessere Zukunft wünscht, muss diese auch visualisieren können. Aktuell scheint zuweilen wenig Hoffnung auf ein besseres Morgen zu bestehen, dabei wäre genau dies durchaus auch als eine Designaufgabe zu verstehen.

2019, noch bevor das Coronavirus den Alltag prägte, veranstaltete die Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel ein Symposium mit dem Titel »future sense«, das sich mit der Frage beschäftigte, wie Kunstschaffende und Gestalter*innen zu einer nachhaltigen Zukunft beitragen können. Einer der Referent*innen, der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer, sagte in seinem Vortrag: »Der modernen Gesellschaft scheint jegliche Vorstellung abhandengekommen zu sein, dass es anders, besser sein könnte, als es ist. Sie hat keinen Wunschhorizont mehr, sondern ihre Zukunft offenbar schon hinter sich.« Das sei jedoch nicht immer so gewesen. Irgendwann auf dem Weg in das 21. Jahrhundert müssen deren Zukünfte gewissermaßen verloren gegangen sein. Die Aufgabe von höchster Dringlichkeit ist für Welzer die »Wiedereinführung der Zukunft« oder mit anderen Worten, die Menschen dazu zu bringen, sich eine andere, bessere Welt vorzustellen. Eine mögliche Lösung sieht er in der Schaffung und Visualisierung von Realitäten, die einen konkreten Bezug zur Lebenswelt und Situation ihrer Betrachter*innen haben. Welzer sieht Designer*innen hier in einer entscheidenden Rolle.

Und es stimmt: Für Kreative, insbesondere im visuellen Bereich, manifestieren sich solche Denkprozesse oftmals in Bildern, die zeigen, was kommen könnte oder kommen sollte. Solche Bilder sind eine der wirkungsvollsten Mittel, zu einer besseren Welt beizutragen. Bilder können mehr als dekorative Randnotizen zu den vermeintlich bedeutsameren nicht-visuellen Gedanken und Ideen sein. Nicht selten sind sie entscheidend, denn sie machen Alternativen sichtbar, bessere Welten vorstellbar und motivieren zum Handeln. Wie Fred Scharmen in »Space Settlements« aufzeigt, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, sind Bilder ein oft unterschätzter Katalysator, um Menschen in Bewegung zu bringen. Scharmens Buch zeichnet die Einflüsse und Auswirkungen der spekulativen Illustrationen von Rick Guidice und Don Davis nach und zeigt eindrücklich, wie Bilder eine ganze Reihe architektonischer Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Arbeiten zum Leben im Weltraum motivierten und inspirierten.

Innenansicht der Weltraumstation Stanford Torus von Don Davis, 1975 © NASA Ames Research Center

Bei solchen Bildern ist zu beachten, dass die dargestellte alternative Welt nur anders, aber nicht unbedingt besser sein muss. Solange Betrachter*innen in der Lage sind, sich in diese veränderten Realitäten hineinzuversetzen, können sie sich von ihnen inspirieren lassen und sich wieder eine alternative und vor allem bessere Zukunft vorstellen. Die Betrachter*innen imaginieren die dargestellten Realitäten entweder weiter oder entwickeln sogar ihre gänzlich eigenen positiven Zukunftsbilder. Für Gestalter*innen sind solche Visualisierungen von Zukünften ausgesprochen spannend, denn neue, abweichende Welten zu gestalten und zugänglich zu machen, kann im Wesentlichen als eine Gestaltungsaufgabe verstanden werden.

Was Utopien sind und wie man sie visualisiert

Bilder von alternativen Zukünften zu schaffen, bedeutet nichts weniger, als Utopien zu visualisieren. Dem Politikwissenschaftler und ausgewiesenen Utopie-Experten Thomas Schölderle zufolge ist eine Utopie in erster Linie eine Form der Sozialkritik. Diese erfolgt durch die Präsentation einer rationalen Fiktion menschlichen Gemeinwesens, die sich in den kritisierten Aspekten von der tatsächlichen Welt unterscheidet. Im Gegensatz zum landläufigen Verständnis ist eine Utopie daher nicht zwingend eine bessere oder gar perfekte Welt. Eine Dystopie, die problematische Tendenzen in der realen Welt aufgreift und diese dramatisiert, ist also nicht das Gegenteil einer Utopie, sondern eine Form von ihr. Am anderen Ende des Spektrums von Utopien stehen ideale, perfekte Welten, die als »Eutopien« bezeichnet werden.

Unabhängig davon, ob die alternative Welt nun dystopisch (schlecht) oder eutopisch (gut) ist, können Visualisierungen solcher rationalen Fiktionen auf zahlreiche, manchmal unerwartete Weise erreicht werden. In unserer Recherche konnten wir neun verschiedene Strategien zur Visualisierung von Utopien identifizieren:

  • Planzeichnung
  • Räumliche Illustrationen und Renderings
  • Modellierung
  • Objektentwurf/-skizze
  • Prototyping
  • Erstellung von Beweisstücken
  • Chronik
  • Darstellung von Lebensweisen
  • Dokumentarische Bilder

Um die Spannbreite dieser Visualisierungsstrategien zu veranschaulichen, haben wir drei Strategien ausgewählt, für die wir je ein konkretes Projekt als Beispiel vorstellen wollen. Am Ende wollen wir noch auf eine unserer eigenen Arbeiten hinweisen, in der mehrere Ansätze kombiniert wurden.

Weltkarte von »Neotopia« mit 6.442.450.944 Ländern © Manuela Pfrunder
Darstellung einer quadratischen Landfläche in »Neotopia« (291,5 × 291,5 m) © Manuela Pfrunder

Pfrunders radikaler Atlas der Verteilungsgerechtigkeit 

Das erste Beispiel für die Visualisierung einer alternativen Welt ist Manuela Pfrunders Atlas »Neotopia«, der eine Welt mit radikal gleichmäßiger Verteilung zeigt. Die darin enthaltenen Karten beschreiben eine Welt, in der alle Menschen den gleichen Zugang zu Wasser, Bergen, Wäldern, Wiesen, urbanisiertem Land und weiterem hätten. Pfrunder belässt es aber nicht bloß hierbei, sondern geht weit über geografische Aspekte hinaus. Sie zeigt beispielsweise auch, was es bedeuten würde, wenn Ressourcen wie Kaffee, Kakao, Käse, Zucker, Fisch, Fleisch etc. gleich verteilt wären. Sie geht sogar so weit, sich eine gleichmäßige Verteilung von menschlichem Leid wie Hunger oder politischer Verfolgung vorzustellen. »Neotopia« ist eine entschiedene Kritik an den bestehenden Ungleichheiten in unserer heutigen Welt in Form eines Atlas. Sie macht eine alternative Realität mittels Kartografie, also der Visualisierung räumlicher Verhältnisse, verständlich. Pfrunders Arbeit ist daher ein wunderbares Beispiel für die Visualisierungsstrategie »Planzeichnung«, ein besonders hilfreicher Ansatz, sobald es darum geht, eine Welt basierend auf konkreten Zahlenwerte zu visualisieren.

»The Gesundheit Radio« © James Chambers und Tom Judd
»Floppy Legs« © James Chambers und Tom Judd
»AntiTouch Lamp« © James Chambers und Tom Judd

Die utopischen Prototypen der Attenborough Design Group

Ein anderer Ansatz zur Visualisierung von Utopien besteht darin, Prototypen von Objekten zu entwerfen, die einer utopischen Welt entspringen. Vor allem im Bereich des spekulativen Designs finden sich hierfür zahlreiche interessante Beispiele. Eines davon besteht aus einer Reihe von Objekten, die von den Designern James Chambers und Tom Judd entworfen wurden. Sie haben sich die Frage gestellt, wie wohl der berühmte britische Tierfilmer David Attenborough seine Produkte gestaltet hätte, wäre er Industrial Designer geworden. Unter dem Namen Attenborough Design Group begannen sie, Prototypen zu entwerfen, die Selbstschutzmechanismen aus der Natur nachahmen. Eines der so entstandenen Produkte war »The Gesundheit Radio«, das niest, um sich selbst von angesammeltem Staub zu befreien. Ein anderes Objekt war das Diskettenlaufwerk »Floppy Legs«, das auf seine kleinen mechanischen Füße springt, sobald Flüssigkeit in der Nähe ausgeschüttet wird. Das dritte Objekt, die »AntiTouch Lamp«, schützt ihre empfindliche Glühbirne, indem sie ausweicht, sobald ihr etwas zu nahekommt. Mit dieser kreativen, spekulativen Technologie zeigen uns die Designer eine Welt, die nachhaltig und umweltfreundlich ist. Anstelle von geplanter Obsoleszenz, also der absichtlichen Implementation von Schwachstellen, um eine langfristige Nutzung unwahrscheinlich werden zu lassen, verfügen die Geräte über Selbstschutzmechanismen, die für eine verlängerte Lebensdauer sorgen. Es handelt sich also um eine Kritik an der Schnelllebigkeit und Verschwendung heutiger elektronischer Geräte, die in hohem Maße zur aktuellen ökologischen Krise beitragen.

A 17-year-old Civil Rights demonstrator is attacked by a police dog in Birmingham, Ala., on May 3, 1963. This image led the front page of the next day’s New York Times.
Birmingham-Bewegung. Protest gegen die Rassentrennung in Birmingham (Alabama), organisiert von Martin Luther King und der Southern Christian Leadership Conference (SCLC), 1963

Dystopische Fotografien eines rassistischen Landes 

Eine dritte Strategie zur Visualisierung alternativer Zukünfte ist die Anfertigung dokumentarischer Bilder. Unser gewähltes Beispiel mag vielleicht etwas unerwartet scheinen. Gerade deshalb ist es aber aufschlussreich, denn es verdeutlicht die Breite an Möglichkeiten, mit denen Visualisierungen alternativer Welten geleistet werden können. Fotografien können zahlreiche Dinge dokumentieren. Je nachdem, was gezeigt wird, können sie starke, vielleicht sogar schockierende oder verstörende Reaktionen hervorrufen. Martin Luther King und die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) waren sich der Wirkung von Fotografien bewusst. Sie organisierten 1963 in Birmingham einen gewaltfreien Protest gegen die Rassentrennung. Damals war die Stadt Birmingham als einer der rassistischsten Orte der Vereinigten Staaten bekannt. Die Organisatoren wählten diesen Ort in der Erwartung, dass die Situation eskalieren, gewalttätig werden und letztlich zu eindrucksvollen Bildern von weißer Brutalität und Gewalt gegen Schwarze führen würde. Wie die damals entstandenen Fotografien des Protests dokumentieren, sollten die Veranstalter mit ihren Erwartungen recht behalten. Für die Stadt Birmingham mögen die Fotos von rassistischer Gewalt die tatsächlichen Verhältnisse wiedergegeben haben. Für viele andere Orte in den USA und darüber hinaus, in denen solche rassistischen Exzesse nicht üblich waren, zeigten sie jedoch eine dystopische Welt. Es war ein bedrohliches Bild dessen, was auch an anderen Orten Realität werden könnte, wenn man sich den Ungerechtigkeiten gegenüber der schwarzen Gemeinschaft und den vielfältigen rassistischen Handlungen nicht entgegenstellen würde. So erwiesen sich diese Fotografien als eine Visualisierung einer Dystopie und damit zu einer eindrucksvollen visuellen Sozialkritik, die die Bewegung für eine antirassistische Zukunft stärkte.

SWISSTOPIA AUTOMATA. Ein fiktiver Bericht über die Schweiz nach der Arbeitsgesellschaft von Hoang Nguyen, 2020
Modell II: DVAUWNWH-A. Visualisierung eines Logistikautomaten aus SWISSTOPIA von Hoang Nguyen, 2020

Ein Bericht über eine Zukunft nach der Arbeitsgesellschaft

Die oben genannten Projekte und viele andere zeigen, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, Visualisierungen alternativer Welten und Zukünfte zu schaffen. Dabei geht es nicht um fantastische Welten, wie wir sie beispielsweise aus Science-Fiction-Romanen kennen, die letztlich vor allem der Unterhaltung dienen. Visualisierungen von Utopien leisten weit mehr. Sie regen Betrachter*innen dazu an, sich eine bessere Welt vorzustellen und schließlich auch für eine solche aktiv zu werden. Abschließend möchten wir ein Projekt aus unserem Portfolio vorstellen, das mehrere der genannten Strategien kombiniert: SWISSTOPIA AUTOMATA. Es ist ein fiktiver Bericht aus einer utopischen Schweiz jenseits der Arbeitsgesellschaft. Das Projekt erzählt davon, was wohl passiert wäre, wenn sich die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen in 2016 durchgesetzt hätte und damit eine weitreichende Transformation der Arbeitswelt angestoßen worden wäre. Die volle Projektdokumentation gibt es hier.

Die originale, englische Fassung des Textes erschien auf der Seite des Grafik Studios Nguyen Gobber: https://nguyengobber.com/insights/visualising-utopia

Die deutsche Fassung erschien erstmals auf der Seite der gemeinnützigen Stiftung FUTURZWEI: https://www.futurzwei.org/article/visualisierung-von-utopien

Link: https://nguyengobber.com/

Literatur:

Dunne, A. & Raby, F.: »Speculative Everything: Design, Fiction, and Social Dreaming«, Cambridge, The MIT Press, 2013

Fisher, M.: »Capitalist Realism: Is There No Alternative?«, United Kingdom, John Hunt Publishing, 2009

Pfrunder, M.: »Neotopia: Atlas zur gerechten Verteilung der Welt – Atlas of equitable distribution of the world«, Zürich, Limmat, 2002

Rogger, B., Voegeli, J. & Widmer, R. (Eds.): »Protest: The Aesthetics of Resistance«, Zürich, Lars Müller Publishers, 2018

Scharmen, F.: »Space Settlements«, New York: Columbia Books on Architecture and the City, 2019

Schölderle, T.: »Geschichte der Utopie: Eine Einführung«, Köln, Böhlau, 2012

Welzer, H.: »Alles könnte anders sein: Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen«, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2019

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