Foto: Ree Morton, courtesy Generali Foundation
Foto: Ree Morton, courtesy Generali Foundation

Bettler: Der Einbruch der Wirklichkeit

Echte Menschen in realen Körpern mit direkten Wünschen brechen in die geistigen Verdrängungs- und Selbstablenkungsversuche von ÜsterreicherInnen ein. Wer ist fiktiv? Wer real? Hast du einen Euro? Oder hörst du nur Roma Musik?

Die Künstlerin Ree Morton untersuchte in ihrem Kunstwerk »Sister Perpetua’s Lie« die Imaginationen des französischen Schriftstellers Raymond Roussel, der unter dem Titel »Impressions d’Afrique« (1910) ein Gebiet absurd fantastischer, völlig zügelloser Imagination entstehen lie&szlig, das mit dem realen Afrika nichts zu tun hatte. Morton schrieb in ihr Notizbuch, dass Schriftsteller »aus ihren Neurosen sich ihre Wirklichkeit erschaffen«. Und dafür gerne andere Länder, Kontinente oder zumindest Menschen aus anderen Ländern verwenden.
Sich eigene Wirklichkeiten zu erschaffen wird heute immer wichtiger, denn wir leben in einem Zeitalter der Dissoziation – viele Menschen schalten, warum auch immer, Teile der Wirklichkeit aus, verdrängen die realen Bilder vor ihren Augen und laufen in ihrem eigenen kleinen Reich, einer durchsichtigen Kopfwelt, durch die Stra&szligen. Als Herrscher ihres ureigenen Universums, in dem Störenfriede unerwünscht sind.

Leibhaftiger Dissoziations-Einbruch
Leider gibt es nun auch »Einbrecher« in diese allgemeine Dissoziations-Glückseligkeit: Leute, die in der Realität leben und leben müssen, die sich nicht die kleinste Verdrängung erlauben können, um dem alltäglichen ?berlebenskampf die Stirn bieten zu können. Wenn also ein Rom, eine Rumänin, ein Zeitungsverkäufer oder wer immer als mobiler Vertreter der verarmten Massen in Südosteuropa nach der Transition »frech« Geld einfordert, als gäbe es kein Morgen und kein Facebook, wo man erstmal eine Freundschaftsanfrage stellt, ist das der Einbruch der Wirklichkeit in die Fiktion. Roma und Sinti, denen über Jahrhunderte nachgesagt wird, dass sie besonders gut mit den Kopfwelten, Wünschen und Projektionen der EuropäerInnen experimentieren könnten, brechen nun in die leibhaftige Dissoziation der Üsterreicher ein. Und zwar nicht mystisch verklärt und gefiltert, sondern »leibhaftig«. Roma, die aus Militärmusik-Persiflagen eine eigene Musikrichtung erfanden. Deren Musik Emir Kusturica für seine Filme klaute und in »Time Of The Gipsys« Bilder der »Cigani« ins Extreme überzeichnete und damit eine ganze Generation von RezipientInnen prägte, sowohl was Fantasiewelten und mystische Ereignisse als auch was Bettler-Lebenswelten betrifft. Wanderer zwischen den Welten stören nun ÜsterreicherInnen, die eventuell über Kopfhörer Roma-Musik hören, und die mit ein bisschen Geld und ein bisschen Elend halbwegs glücklich-unglücklich überleben und sich jede Unterbrechung von au&szligen verwehren.

Fiktive Welten
In dem Prozess, in dem der öffentliche Raum mehr und mehr kommerzialisiert wird, werden also die sozusagen einzigen echten, in der Wirklichkeit verhafteten Menschen als Belästigung empfunden – denen keine kommerzielle Imaginationswelt zur Ablenkung gegen die Widrigkeiten des Lebens bleibt. Wenn ein Mensch bettelt, als sähe er diese Person nie im Leben wieder, sich direkt vor seine Nase verfügt und nicht weichen will, stellt er sich über dessen irreale Welt au&szligerhalb des Diesseits, die er nicht verstehen kann. Daher ist es auch nachvollziehbar, wieso sich »Gebürtige« so persönlich angegriffen und beleidigt fühlen, wenn sie jemand an seine reale Existenz erinnert! Es gilt in ihrer Kopf-Welt als Belästigung real zu sein und für seinen realen Körper reale Wünsche zu äu&szligern.
Es gibt aber au&szliger nach Euros auch den Hunger nach Worten, nach Ermutigung, nach Wahrnehmung, Anerkennung einer Lebensexistenz. Am Brunnenmarkt sah ich letzten Samstag einen jungen Mann, der Akkordeon spielte und als ihn beinhart keiner beachtete, alle in ihren Parallelwelten verfangen an ihm vorbei liefen, ihn sogar aus ihrem Sehfeld aussparten, blass wurde und mit den Armen vor und zurück zu schlenkern anfing. Wie ein verlassenes Kind, das sich fragt, ob es echt sei, ob es überhaupt lebt – oder ob diese Welt eine fiktive sei mit lauter fiktiven Menschen?

PS: Am Donnerstag 14. Juni spielte Karandila junior, ein Gipsy Brass Orchester aus Bulgarien, in der Steinergasse 8, 1170 Wien zugunsten der Opfer der Kunst Katastrophe ein Benefizkonzert.
www.mega5.at

Home / Kultur / Open Spaces

Text
Kerstin Kellermann

Veröffentlichung
15.06.2012

Schlagwörter

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