Zwischen »Live at the Zodiak – Berlin 1968« mit der Formation Human Being und der diesjährigen Compilation »Selected Pieces« auf dem House-Label Mule Musiq liegen mehr als hundertsechzig Veröffentlichungen und geschätzte tausendfünfhundert Produktionscredits. 1934 bei Berlin geboren, gehörte Hans-Joachim Roedelius zu den Antriebsbeschleunigern der Rock-, Jazz- und Elektronikavantgarde der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Neben seinen Band- und Soloarbeiten sind Kollaborationen mit Lloyd Cole, Brian Eno, Michael Rother, Conrad Schnitzler oder Tim Story anzuführen, die auf Grönland, Multimood, Sky, Prudence Cosmopolitan oder seinem eigenen Label erschienen sind. Außerdem wurde er zu einem prominenten Ermöglicher für die junge österreichische Musikszene.
Er war und ist der sich eher Zurücknehmende unter den teils recht wilden Neutönern. Seine Kompositionen verschließen sich dem schnellen Zugang: Was immer wieder als eine – wenn auch fein gewobene, aber doch als solche identifizierte – Klangtapete diskreditiert wurde, ist indes vielmehr die Schaffung eines Ambientes, in dem Physis und Psyche gleichberechtigte Parameter für akustische Architekturen darstellen. In Roedelius‘ Musik spielt das Zu-sich-Kommen eine wichtige Rolle, sie ist nie nur Musik, sondern immer auch Fährtenlegerin. Sie überlässt den Hörer immer wieder und ganz bewusst sich selbst und fordert dafür Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung ein: Ein Plädoyer, genauer hinzuschauen und hineinzuhören. Roedelius spricht vom »Horchbewusstsein«, das entscheidend zu emotionalen Stimmungslagen und sozialem Umgang mit Musik beiträgt.
Hans-Joachim Roedelius initiierte More Ohr Less, ein Festival und Symposium, das seit 2003 am wildromantischen Lunzer See im niederösterreichischen Mostviertel stattfindet und mittlerweile einer der wichtigsten heimischen Umschlagsplätze für improvisierte und experimentelle Musik jenseits der Genrezuschreibungen ist. In diesem Jahr traten Roedelius‘ Lunz-Projekt (mit u. a. Story, Bernadette Reiter, Christopher Chaplin), Clementine Gasser, Tex Rubinowitz/ Gerhard Potuznik als Mäuse, Mauracher und I-Wolf auf und die Kothbergtaler Schuhplattler zeigten zu gegenwärtiger Musik ihre Tanzkünste. Auch fand man sich zum MOL-Kammerorchester zusammen, eine Art Best of an MusikerInnen aus Roedelius‘ Umfeld, bei dem ebenso Onnen Bock wie auch Ping Lin und Heidelinde Gratzl mit von der Partie waren.
skug nahm die zehnte Ausgabe von More Ohr Less zum Anlass, mit Hans-Joachim Roedelius ein Gespräch zu führen. Als Gestalter und Beobachter durch die Jahrzehnte, erzählt er von seiner Zeit als Aktionskünstler, großen Orgelpfeifen und Elektronik als sozialen Begriff: »Meine Universität ist das Leben selber.«
skug: Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes einschneidendes Musikerlebnis oder an einen Klang, einen Ton, den Sie ganz bewusst wahrgenommen haben?
Hans-Joachim Roedelius: Ungefähr 1966 hat mir eine Freundin in Paris Musik von Iannis Xenakis und Pierre Henry vorgespielt. Ich war zu der Zeit noch Krankengymnast und Masseur und lebte in dieser Metropole als eine Art von Hippie-Heiler, der Privatpatienten behandelte, unter anderem auch die Frau des damaligen Präsidenten des Nationalrates Chaban Delmas, für deren Behandlungen ich den Élysée- Palast barfuß betreten durfte. Zu meinen anderen Patienten zählten Angehörige von Adel und Großbürgertum der Stadt. Ich verbrüderte mich in meiner Freizeit unter den Brücken der Seine mit Clochards, mit denen ich so manchen Coup de rouge trank, und beschäftigte mich dort auch noch mit vielen anderen für mich interessanten Dingen, aber die Musik dieser beiden Zeitgenossen öffnete für mich die Tür in ein neues Universum, schon ein Jahr später wechselte ich über in die Welt der Kunst.
Wann war für Sie klar, dass Sie sich auch aktiv intensiv mit Musik beschäftigen wollen?
Ungefähr 1967 lernte ich in Berlin Judith Malina und Julian Beck mit ihrem Living Theater kennen und schätzen und entschloss mich zu einem radikalen Berufswechsel. Ich begann zunächst, neben verschiedensten Tätigkeiten zum Broterwerb, als Straßenmusiker aufzutreten und wurde schließlich Mitbegründer des Zodiak Free Arts Lab und der Musikformation Human Being.
Einen eigenen Weg zu gehen, mich mit Soloarbeiten aus den verschiedenen Kollaborationen zumindest zeitweise auszuklinken, in denen ich am Anfang meiner künstlerischen Laufbahn mitwirkte, wie bei Kluster, Cluster und Harmonia, wurde mir möglich, als ich 1972 mit Dieter Moebius in einer Kommune von Kunstschaffenden im Weserbergland in der Nähe von Holzminden in einem abgelegenen, magisch schönen Ort, dem alten Weserhof in Forst, lebte, nach einer etwa dreijährigen Odyssee als Aktionskünstler durch europäische Museen, Kunsthallen und Galerien. In Forst begann ich mit Erfolg an meiner eigenen Tonsprache zu arbeiten. Brian Eno mochte meine Soloarbeiten, die später als »Selbstportraits« herauskamen und neuerdings vom Hamburger Label Bureau B wiederveröffentlicht wurden.
Einst schrieb er mir aus Kanada, wo er damals mit Daniel Lanois und U2 zusammenarbeitete, eine Postkarte, in der er anmerkte, dass er, seine damalige Freundin Ritva Saarikko und Daniel sich jeden Morgen an meiner Musik erfreuen würden, weil sie so absichtslos einfach sei. Diese Aussage hat mich damals natürlich sehr aufgebaut und mir die Weiterarbeit erleichtert.
Sehen Sie eine Verbindung zwischen unseren ganz persönlichen »Geschichten«, Geographien, Biographien etc. und der Art und Weise, wie wir hören, spielen oder komponieren?
Ich kann nur sagen, dass ich meine künstlerische Tätigkeit als logische Fortsetzung der Arbeit meiner Ahnen sehe, unter denen viele als Lehrer, Pastoren und Kantoren unterwegs waren. Mit den Ideologien des Faschismus, Kommunismus und zuletzt des Kapitalismus, die meinen Weg bisher begleitet haben, war ich versucht, mich auf das darin jeweils üblich Gesellschaftskonforme hin konditionieren zu lassen, Gott sei Dank ohne Erfolg. Was ich im Verlaufe der Jahre unter diesen Gesellschaftsformen erlebt und erfahren habe, das ist eine Geschichte unzähliger Höhen und Tiefen. Sie dient mir als Basis für meine gesamte künstlerische Arbeit, ist verlässlicher Wegweiser für meine Reise durch die Gegenwart.
Bezeichnen Sie sich eher als Komponist oder als Musiker? Wie würden Sie Ihre musikalischen Praktiken beschreiben oder definieren?
Schwierig zu sagen. Ich wurde so sehr auf meinen eigenen Weg gestoßen, dass diese Begriffe von geringer Relevanz für mich waren und immer noch sind. Ich schreibe mein Leben in musikalischen und schriftlichen, aber auch in Werken der bildenden und gestaltenden Kunst fest. Meine Universität ist das Leben selber. Was mir widerfahren ist und was ich selbst im Verlaufe meiner Entwicklung getan habe, füllt viele Bände, wäre Material für eine ganze Filmserie, angefangen hat das ja schon zwischen 1939 und 1943, wo ich als Kinderstar in verschiedenen Filmen der UFA mitwirkte.
Haben sich Ihre Musik und Ihr künstlerischer Ansatz im Lauf Ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit weiterentwickelt oder verändert?
Ich fühle mich verpflichtet bzw. will das tun, was ich tue, und zwar genau so, wie ich es für richtig halte. Ein Roedelius-Ahne, Kommunalpolitiker, Bürgermeister von Berlin-Spandau, hat einer Berliner Straße meinen Namen gegeben: Roedeliusweg. Ich habe mir erlaubt, eine meiner Platten so zu benennen, in voller Absicht, um klarzumachen, dass ich diesen Weg nicht nur gehe, sondern dass ich dieser Weg bin.
Wie wichtig und maßgebend für Ihr eigenes Schaffen waren die vielen musikalischen Bewegungen, die Sie miterlebt haben: von der Darmstädter Schule zu Krautrock, von Electro zu Free Jazz, von Minimal zu Noise, von Experimental zu Mainstream?
Nicht so wichtig wie wohl für so viele meiner Kollegen, seien es Holger Czukay, Conny Plank, Florian Schneider-Esleben, Conrad Schnitzler oder andere, die sich auf solcherlei Bewegungen berufen haben. Ich bin ein Außenseiter, habe mir alles, was zum Komponieren oder Musizieren gehört, selber beigebracht, um schließlich genau zu wissen, was ich und wie ich dies zu machen habe.
Ist für Sie elektronische Musik ein eigenes Genre?
Als Autodidakt mit einer solch »bunten« Lebensvergangenheit ist für mich die Möglichkeit, Musiken mit elektrisch erzeugtem Tonmaterial zu generieren, unverzichtbar. Elektronische Musik ist nicht nur ein neues Musikgenre, es ist, für mich jedenfalls, der Zugang in eine völlig neue klangliche Ausdruckwelt, etwas, was zuvor so nicht möglich gewesen ist. Wohlgemerkt, ich spreche von Musik, so wie ich sie verstehe, und damit, wozu ich sie für fähig halte. Nicht die übliche Unterhaltung, Vergnügen an der Perfektion eines Klangkörpers wie den der Berliner oder Wiener Philharmoniker, eines jeweiligen Solisten, nicht die Suche nach Zerstreuung mittels raffinierter Rhythmik und schöner Harmonien, nicht Tanz, rituelle oder Schlagermusik, sondern Musik als Lehrauftrag, als Klangphilosophie, als Tonskulptur, Klangkino, Lautmalerei.
Ein wohlverstandener Umgang mit elektrisch erzeugten Tönen, Klängen und Geräuschen im Zusammenhang mit dem Gebrauch rein akustischen Klangmaterials ermöglicht meiner Meinung nach die Erschaffung von Klanggestalten, die Geist und Seele des Hörers auf der Metaebene eines Ûberbewusstseins berühren. Es wartet schon lange darauf, nach allen redlichen Versuchen, besondere Klangkunstwerke zu schaffen, die den gesamten Menschen zutiefst berühren, »endlich voll beglückt« zu werden. Hier dürfen wir alle noch auf größte Ûberraschungen hoffen.
Kann sich die Musik überhaupt noch weiterentwickeln?
Wir dürfen darauf hoffen, dass nicht nur die Musik, sondern die gesamten Künste, dass Wissenschaft, Philosophie und Religion in einer vielleicht schon sehr nahen Zukunft in ihren Werken den Verheißungen der heiligen Schriften endlich näherkommen, um uns die Einsicht und die Energie zum Verzicht auf das zu schenken, was unsere Welt bisher zum einem Tollhaus gemacht hat: die Gier! – Nicht Evolution, sondern Entwicklung, Erschließung neuer Ausdrucksmöglichkeiten.
Ihr Name und Ihr musikalisches Schaffen scheinen untrennbar mit bestimmten Genres verbunden zu sein. Wie denken Sie darüber?
Kategorien mögen hilfreich sein beim Rezipieren und Verdauen von Kunst, gleich welcher Art. Für mich hatten sie nie Bedeutung, weil ich Gott sei Dank machen konnte, was mir einfiel, und mir deshalb völlig egal sein konnte, was über meine Musik gesagt wurde und wird. Ich bin überzeugt von einem integralen Horchbewusstsein, das genau definiert, was gut für Körper und Seele ist, eine Art Gesundheitskompass durch die unerhörte Vielfalt musikalischer Angebote seit der Entstehung der ersten Musiken. Wenn Leute eher auf das vertrauen, was sie über die Qualität von Musiken von allen möglichen Autoritäten gehört haben bwz. dies so verinnerlichen, dass sie es beim Hören von Musik gewissermaßen immer wieder gedanklich mithören, bekommen sie nicht mehr mit, was die jeweils gehörte Musik selbst zu sagen hat. Natürlich wird unser Horchbewusstsein nach Dieter Moebius mit Hans-Joachim Roedelius © Mark Pilkington langem Horchen auf und damit Gewöhnen an z. B. klassische bzw. generell akustische Musik so sehr von deren Klangqualitäten und Spielformen eingenommen, dass es gewissermaßen zu »Begriffsschwierigkeiten« beim Anhören von z. B. elektronischer Musik kommt und es diese zuerst einmal als weniger hörenswert einstuft. Musik von Cluster und meine eigene haben Jahrzehnte benötigt, um als »neue« oder gleichwertige Musikformen anerkannt und akzeptiert zu werden. Ich selbst habe größte Schwierigkeiten beim Anhören der Musiken so großer Namen wie etwa Stockhausen, Cage, Schönberg, Webern etc. Ich muss mich dabei fragen: Was um Gottes Willen ist so ergreifend daran, dass ganze Generationen auf den Knien davor liegen? Deshalb verstehe ich sehr gut, dass meine Musik anfangs nur von einem relativ kleinen Publikum angehört und goutiert worden ist. Sie stößt jetzt aber mehr und mehr auf Verständnis, dies in den letzten Jahren aber auch deshalb, weil in der Zusammenarbeit mit Freunden und Kollegen inhaltlich wie formal weit komplexere Klanggebilde entstehen konnten, die sozusagen dem Wissenskosmos bzw. dem Verständnis der jeweils Beteiligten Rechnung tragen und somit per se einen weit größeren inhaltlichen und formalen Reichtum beinhalten.
Sie haben in Bands, Duos oder anderen Konstellationen mit vielen MusikerInnen zusammengearbeitet. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Es begann 1968 mit den acht Leuten von Human Being, alle Nichtmusiker. Mit Kluster, Cluster und Harmonia ging es dann weiter. Bei der Arbeit mit diesen Gruppen wurde mir klar, was ich als Solist zu tun hatte, um jene Genugtuung zu erfahren, nach der ich mich schon immer gesehnt hatte. Hier stellte sich auch heraus, dass wir tatsächlich ein neues Musikgenre geschaffen haben, wozu ich mit meiner eigenen Klangsprache, so glaube ich jedenfalls, wesentlich beigetragen habe.
Was haben Sie als nächstes vor?
Was ich immer schon mache: künstlerisch arbeiten, aber nicht getrennt vom Familienleben, sondern als Teil davon. Meine größte Herausforderung kam vergangenen Mai als Geschenk zu mir. Durch die Vermittlung eines lieben Freundes war es mir vergönnt, die große Schuke- Orgel mit vier Manualen und zweiundsiebzig Registern von ihrem Spieltisch aus in der Mitte der Bühne des großen Saales in der Berliner Philharmonie zu bespielen. Der Versuch, einem meiner Ahnen, dem Kantor Johann Christian Roedelius, der als Zeitgenosse Bachs um 1730 – wie die »Leipziger Zeitung« von anno dazumal es ausdrückte – »erbauliche Kirchenmusik« komponiert hat, mit diesem Instrument auf die Spur zu kommen, hat sehr minimalistische Etüden und Miniaturen hervorgebracht. Via Bureau B sollen sie bald ihren Weg zu den Ohren meiner Hörerschaft finden.
Gibt es noch etwas, das Sie bei unseren Fragen vermissen, aber hier gerne erwähnen möchten?
Es ist ein Privileg, so arbeiten zu können, wie es mir gestattet ist. Dass ich wirklich das, was ich will, machen darf, dass mir niemand reinredet, dass mir kein Produzent ins Konzept pfuscht mit Einwänden, Hinweisen und schließlich auch Manipulationen unter Berufung auf vermeintlich notwendige Vermarktungskonzepte.