Sechs Tage, 16.000 Festivalgäste, 150 Filme aus 32 Ländern, 100 RegisseurInnen: Linz, Crossing Europe 2008! Das Filmfestival, das heuer zum fünften Mal stattfand, ist viel mehr als die Aufzählung gewaltiger Zahlen, nämlich die Bündelung ausgezeichneter Filme fernab von gierenden Publikumsgaranten. Die Zusammenstellung des Programms um Christine Dollhofer und ihrem Team besticht nicht minder durch die Wahrung einer Eigenständigkeit eines jeden einzelnen Films bei gleichzeitiger Fortführung sogenannter (Themen)-Schwerpunkte, wie natürlich Wettbewerb (die diesjährige Preisträgerin Isild Le Besco erzählt in ihrem Film »Charly« vom Erwachsenwerden zwischen gelebter und gespielter Realität), Panorama, Arbeitswelten, Tribute (litauischer Film), Hommage (dem Linzer Künstler Dietmar Brehm gewidmet) und nicht zuletzt Local Artists, dessen Award an Barbara Musil und ihren Animationsfilm »Market Sentiments« mit dem Hintergrund des euphorischen Verschacherns estnischer Landzonen ging.
»Trivial Europe«
Signifikant schien auch die Herangehensweise des Linzer Künstlerkollektivs Die Fabrikanten. In »Trivial Europe« zeigen kulturaffine Locals ihre Lieblingsplätze. In Liverpool ist das beispielsweise ein ehemaliger Straßenstrich, in Essen der erste Aldi-Supermarkt, in Linz eine Wiese, wo ein abgerissenes Wohnhaus stand, in Thessaloniki eine Rembetiko-Spelunke und in Novi Sad der sakrale Raum einer orthodoxen Kirche. Das Konzept öffnet manche Räume, nur sind die Bilder zu amateurhaft und Zusammenhänge wirken zu sehr konstruiert oder beliebig in Reihenfolge gesetzt. Trotzdem Freude darüber, dass auch der wohl beste Regisseur Novi Sads seine favourite places präsentierte. U.a. eine Art Kirtag, wo islamische Jugendliche von Želimir Žilnik befragt werden, wie sie’s mit den Ramadan-Vorschriften halten.
Želimir Žilniks »Kenedi Triology«
Jedenfalls ist Žilniks »Kenedi Triology« ein Paradebeispiel für die gelungene Darstellung sozialer Thematiken im Rahmen von Crossing Europe. Und für die Malaise, die sich aus verfehlter EU-Politik ergibt. Als tausende von Roma, die wegen der Jugoslawien-Kriege nach Westeuropa geflüchtet waren, obwohl sie gut integriert waren, nach Belgrad abgeschoben wurden, erkannte der Filmemacher aus der Hauptstadt der Vojvodina als erster die Problematik und machte auf diese Tragik, die insbesondere die hauptsächlich der deutschen Sprache mächtigen Kinder erneut entwurzelte, aufmerksam. Zwar sind die Lebensumstände widrig, es kommt aber auch zum Ausdruck, dass sich die Expatriierten nicht ihre Würde nehmen lassen und trotz der Misere Lebensfreude an den Tag legen. Einzig Zentralfigur Kenedi, einem eigentlich in Italien geborenem Roma, scheint es dank seines unbändigen Willens zu gelingen, in den Westen zurückzukehren.
Žilnik, der zurzeit eine Doku über den Kapitalismus, wie er Serbien heimsucht(e), dreht, verwies im Gespräch darauf, dass die serbische Politik erst auf dieses Rückkehrerproblem aufmerksam gemacht werden musste, jedoch die Roma eine anerkannte Minderheit in Restjugoslawien sind und es keine Partei gibt, die wie in Bulgarien, Ungarn oder Rumänien Rassismus gegen Gypsys predigt.
Žilnik war wie der Autor dieser Zeilen tief beeindruckt von Yüksel Yavuz??? türkisch-kurdische Schicksale verhandelndem Dokumentarstreifen »Close-up Kurdistan«.
»Close-up Kurdistan«
Zwar zerbrach Jugoslawien nach dem Kommunismus am aufkeimenden Nationalismus, jedoch sind die Voraussetzungen für sogenannte Minderheiten günstiger als in der Türkei. So war im Staat der Südslawen das Jugoslawientum die vereinende Politikstrategie, die der Vojvodina und dem Kosovo Autonomie einräumte. Die Sezession des Kosovo war wegen der Albaner-Unterdrückung des Miloševic-Regimes logische Folge und gäbe es in der Türkei nicht das allmächtige Militär, das der Politik den Stempel aufdrückt, könnte Kurdistan eine weitreichende Autonomie haben. Atatürks Schaffung des Türkentums ging leider einher mit der Auslöschung/Vertreibung griechischer und armenischer Bevölkerung. Kurden gab es zu viele, aber sie mussten ihre Sprache, ihre Kultur verleugnen. Yüksel Yavuz unternimmt eine Reise zu Protagonisten, die die unglaublichen Mord- und Folter-Praktiken der türkischen Miltärmachthaber schildern. Aber auch zu ehemaligen Verwandten, die aus ihren Dörfern in nunmehr überbevölkerte Städte wie Diyarbakir gebombt wurden, oder zu einem türkischen Ethnologen, der für seinen türkischsprachigen Schriften, in denen er die kulturellen Errungenschaften der Kurden festhielt, mit insgesamt 17 Jahren Gefängnis bestraft wurde. Auch kommen große kurdische Intellektuelle zu Wort, die viele ihrer Freunde verloren haben. Gegenüber Erdogans EU-Annäherung bleibt Kurdistan der Stachel im Fleisch, denn trotz mancher Verbesserungen bleibt die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung sicht- und spürbar, sind PKK-Angriffe menschlich verständlich nachvollziehbar, aber kontraproduktiv.
Jugendliche Delinquenz im Ural
»Allein in vier Wänden« ist ein Film ohne Erwachsene, gedreht auf Kinderaugenhöhe, in Tscheljabinsk im Ural – laut Regisseurin Alexandra Westmeier eine heile Welt mit Ablaufdatum. Spätestens wenn der Junge wegen Diebstahls von T-Shirts und Tomaten unter Tränen von zu wenig Selbstkontrolle spricht, wird einem bewusst, welch harte Realität dahintersteckt. »Allein in vier Wänden« zeigt den Alltag eines Jugendgefängnisses und die Porträts von Kindern – Opfern und Tätern – deren Eltern nicht selten nebenan im Gefängnis sitzen. Dieser Film erwischt einen eiskalt, gerade mit dem Wissen, dass es keine psychologische Betreuung vor Ort, geschweige denn Bemühungen um Resozialisierung gibt, sodass die Rückfallrate bei 91 Prozent liegt. Und das alles ohne die Hoffnung, diesen Film in Russland zeigen oder sehen zu können.
Das noch erträgliche an BruceLaBruces ultralangweiligem Horrorfilm »Otto; Or Up With Dead People« war die Kulisse Weltstadt Berlin mit teils gar nicht abwegigen Plätzen. Absolut lächerlich und ohne Spannungsmomente war der Plot und die vielleicht einzige »Innovation« das Zeigen von schwulem Zombie-Sex, was natürlich beim »Opfer« mit Eingeweiden zu tun hat. Die Nachtsicht-Schiene von Crossing Europe barg aber auch Großartiges: Den beklemmenden Feuerwehr-Gruselschocker »[Rec]« der Spanier Jaume Balagueró/Paco Plaza.
»Gruz 200«, der wahre Alptraum
Horrorfilme sind ja ein Genre, das von brutaler inhumaner Realität zu oft übertroffen wird. »Gruz 200« (so hieß das Tranportflugzeug, das gefallene UdSSR-Soldaten aus Afghanistan zurückflog), auf wahren Begebenheiten beruhendes russisches Kino, ist dagegen ein von Alexey Balabanov mit ruhiger Hand inszenierter Alptraum, der im Jahr 1984 spielt. Allmählich wird offenbar wie korrupt und eigenmächtig die russische Miliz und Polizei auch vor dem Ende des Kommunismus handeln konnte. Hauptschauplätze: Eine zwielichtige Landhütte, wo Wodka abgefüllt und auch bis zur Bewusstlosigkeit getrunken wird und ein Mord geschieht. Danach wird die Tochter eines hohen Parteifunktionärs entführt und ein unschuldig Festgenommener hinter Gittern erschossen. Schlussendlicher Kulminationspunkt: Leninsk, eine morbid düstere westsibirische Industriestadt, in der noch alle Schlote rauchen…
Ausklang nahmen die sonnenlichtberaubten Tage in der ebenso lichtgeschützten Nightline, die sich abgesehen vom repertoirebeschränkten Vicarious Bliss (Ed Banger) als äußerst spannend herauskristallisierte. So weckte das präzis-harte Spiel des italienschen Trios Red Worms‘ Farm Assoziationen zu frühen Sonic Youth oder sorgten The Bug feat. Warrior Queen mit avanciertem Partysound für schwitzende Leiber am Dancefloor des O.K-Decks.
Fazit: Linz – böse ausgedrückt – in der Peripherie von Wien und Graz, braucht und soll und darf sich nicht mit den sogenannten »Großen« messen. Dieses Festival ist so autonom, so politisch, so relevant, letztlich so bestec
hend und dabei so uneitel, dass jeder Vergleich hinken würde.