Dass etwas falsch läuft, belegt ein Blick aufs Display, mancherorts genügt einer aus dem Fenster. Allerdings steigt mit dem Wachstum des Unbehagens, der Sorge oder der Beklemmung nicht die Artikulation. Die Analysen zerfallen regelmäßig zu Staub, während die talking points und sound bites endlos weiterwabern. Die Worte scheinen kaum mehr das Unglück zu fassen.
Dies ist kein Zufall, wie der erste Teil dieser Serie über den brasilianischen Philosophen und Pädagogen Paolo Freire zu zeigen versucht hat. Freires Analyse belegt: Die notwendigen Worte sind ihres Kernes beraubt, nur mehr bloße Bausteine populistischer Verdrehung, die Menschwerdung des Menschen wird verhindert zugunsten einer Unterdrückungsordnung. Dem entgegen müsste ein Bewusstwerdungsprozess – »conscientizacao« (Paolo Freire) – eingeleitet werden, der helfen kann, jenes weltweite Regime, das Menschen verdinglicht, zu überwinden. Und nicht zuletzt müssten einige Worte wieder an ihren Gehalt zurückgeführt werden. So meint Freiheit »frei sein«, »Unterdrückung abwerfen«, »bestehende Zwänge sprengen«. Bleiben allerdings jene Formen, Ausdrucksweisen und Handlungsnormen unserer ›freiheitlichen‹ Gesellschaftsordnung gewahrt, dann ist die Lage so aussichtslos, wie sie sich zuweilen anfühlt.(1)
»The revolution will not be televised«
Der ästhetisch-moralische Kampf um Befreiung muss noch nicht verloren sein. Es gibt gewisse Gegengifte: »Post-Coltrane-Black-Power-Ecstatic-Free-Jazz« zum Beispiel. Ornette Coleman mutmaßte, es sei zwar ungewiss, aber vielleicht könne er sich und seine Musiker kurzfristig »frei« werden lassen. Gilt dies auch für sein Publikum? Würde Musik einen kurzen Eindruck jener verwehrten Freiheit vermitteln, dann wäre sehr viel gewonnen. Die Form der Musik ist gestaltete Zeit. Die größtmögliche Formsprengung in der Musik wäre die Aufhebung der Zeit. Aufhebung der Zeit, das ist die Aufgabe jeder echten Revolution, denn wenn es weitergeht wie bisher, dann hat sie versagt. Eine Revolution hält die Zeit an … und lässt sie neu beginnen. Inmitten einer medialisierten Umwelt erscheint dies wie ein kaum mehr erreichbares Ziel, denn wie sollte der unendliche Strom der Reize je zu einem Ende kommen? Ist es überhaupt noch vorstellbar, dass es im ununterbrochenen Funkfeuer der Informationen zu einer Unterbrechung und einem Neubeginn kommt?
Womöglich sind unsere Medien die perfideste anti-revolutionäre Erfindung der Geschichte. Dem medialen Strom haftet jedenfalls etwas Systemerhaltendes an, da er nur mehr die paradoxe Erfahrung der Erfahrungslosigkeit des »Immer-Weiter« zu vermitteln scheint. Vielleicht findet sich gerade in der Musik des leidenschaftlichen Revolutionärs Fela Kuti etwas, das der medialen Erfahrungslosigkeit entgegensteht, schließlich wurden seine Songs kaum im Radio gespielt, da sie viel zu lang und unkonventionell sind und sich nicht in den medialen Strom einfügen wollen.
»All you know about Africa is wrong«
Das legendäre Konzert in Berlins Haus der Kulturen der Welt. Wer Musik erwartet hat, wird zunächst enttäuscht. Fela (Anikulapo) Ransome Kuti betritt die Bühne und hält eine Rede. Mehrfach insistiert er auf dem ersten Satz und blickt dabei um sich, als wolle er jeder und jedem im Publikum in die Augen sehen. »All you know about Africa … « – vor dem verfälschenden geistigen Hintergrund Europas wird er nicht einfach lossingen, es muss erst ein Boden bereitet werden – »… is wrong.«
Die Geschäftsgrundlage ist für Kuti inakzeptabel, Geld wird nicht gegen Exotik getauscht, sondern (zur Unterstützung seines Kampfes) gegen Einsichten. Selbst in den hoch gebildeten Kreisen Europas ist die Meinung fest verankert, die Länder Afrikas seien schlicht unfähig, Korruption, Misswirtschaft etc. zu überwinden, weshalb ihnen kaum zu helfen sei. Neben dem verborgenen strukturellen Rassismus, der nicht beantworten kann, weshalb ausgerechnet alle Menschen eines Kontinentes unfähig sein sollen, werden damit entscheidende Bedingungen übersehen. Zu dem Zeitpunkt, als die Länder Afrikas ihre Unabhängigkeit bekamen, produzierten die USA jährlich 40.000 Flugzeuge und 8.000 Schiffe. Der »Westen« überschwemmte den gesamten Erdball mit seiner Industrieproduktion. Für eine Industrialisierung Afrikas gab es nie einen Raum.
Überhaupt kam und kommt Afrika eine andere Rolle zu als die des gleichberechtigten Handelspartners.(2) Die Länder des Kontinents haben sich bis heute dem Gebot »Rohstoffe raus, Elektroschrott rein« zu fügen. Kutis Wissen hierüber war präzise und er war gerne bereit, es zu teilen. Zudem war er frei von Ressentiments gegen Oyinbos (Weiße), nur voller Zorn auf Ausbeuter – egal welcher Hautfarbe.
»Who no know – go know«
Kutis Texte sind empörend aktuell. In dem Song »Teacher Don’t Teach Me Nonsense« fragt Kuti in einem jener typischen Wechselgesänge seinen Chor, welches die größten Probleme Afrikas seien: »die Inflation, die Korruption, das Missmanagement?« Seine Antwort: »Austerity«. Dies ist Teil von Kutis Bildungsprogramm, das er im besten Pidgin-Englisch, der Lingua franca Westafrikas, vorträgt. Die Forderung ans Publikum: »Who no know – go know«. Klärt euch auf und erkennt: Jener im 20. Jahrhundert enorm angeschwollene Strom des Finanzkapitals braucht Schuldner – und findet sie in Afrika. Selbstverständlich können die Darlehen nie zurückgezahlt werden. Und damit nicht der Eindruck entsteht, weitere hoch verzinste Kredite würden einfach verschenkt, müssen Zwangsmaßnahmen ergriffen werden. Austerität.
De facto gehört dann den Kreditgebern das Land, indem ein ewiges Schuldverhältnis perpetuiert wird. Dieses Monster, ein »Beast Of No Nation« wie es Kuti nennt, ist bereits in Europa gelandet, es erklimmt den Kontinent in Portugal, Spanien, Irland und hat Griechenland bereits fest im Griff. Nun bewegt es sich in Richtung Mitteleuropa und die rechts-liberalen Autoren warnen bereits, wenn Österreich seine »Hausaufgaben« nicht mache, dann erginge es ihm wie Griechenland – Nigeria bedarf nicht einmal der Erwähnung.
Was Kuti bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren betonte: Diese Entwicklungen sind keine exotischen Kuriosa, mit denen sich Afrika herumschlagen muss, es sind die Probleme der ganzen Welt.(3)
Fela Kuti © David Corio
»The secret of life is to have no fear«
Fela Kutis Berliner Rede war für sein Publikum, das er mit »Brothers and Sisters« adressiert, nichts weniger als ein Geschenk, denn er glaubte an dessen Einsichtsfähigkeit, mehr noch, an dessen Chance auf Erfahrung im Sinne eines Umdenkens. Den hier zugrundeliegenden Anspruch an eine künstlerische Darbietung formulierte Nina Simone sehr klar: »Die Leute sollen schockiert sein, wenn sie aus dem Club kommen, sie sollen aufgerüttelt sein, sich schlecht fühlen und nicht schlafen können, sie sollen sich denken: ›So wollen wir nicht mehr leben, es muss sich etwas ändern.‹« Fela Kuti belässt es an jenem Abend nicht bei seiner antikolonialistischen Vorlesung. Irgendwann hebt die Musik an.
In Kutis Kompositionen ertönen die ersten Klänge zumeist in einer Sphäre der Verunsicherung, der Angst. Ähnlich den traditionellen talking drums Westafrikas sind Klänge und Rhythmen Selbstvergewisserungsmaßnahmen eines ausgesetzten, bedrohten Lebens. Die Rhythmen sind treibend und beunruhigend zugleich. (Deswegen ist Kutis Musik auch nur bedingt tanzbar.) Sie ermahnen zur gespannten Wachsamkeit. Der stets unvermittelte Einsatz der Bläsersätze gleicht dem Aufheulen von Sirenen. Fela Kutis bestimmendes Saxophon ist ein Weckruf, zuweilen ein Schmerzensschrei. Die Melodien mögen eingängig sein, aber sie sind nicht sonderlich um Harmonie bemüht. Der Chor ist anders als jener der griechischen Tragödie ahnungs-, ja hilflos: »Was sollen wir tun, Fela?«
Kutis charismatische Stimme wirkt vor diesem Hintergrund zuweilen wie eine Erlösung, wenn sie endlich einsetzt – es dauert in manchen Songs zwanzig Minuten, bis Kutis Gesang anhebt – und sie vertreibt Verzweiflung und Verzagtheit. »Habt keine Angst, wir können das schaffen.«
»Life And Times Of An African«
Fela Kuti absolvierte seine musikalische Grundausbildung als Chorknabe in einer protestantischen Kirche. Dem ästhetischen Morast der christlichen Chormusik ist er durch zwei entscheidende Interventionen entkommen: Zunächst unterlässt es Kuti, eine kosmische Harmonie mit Basso continuo und dergleichen vorzugaukeln, in einer Welt, in der längst das Chaos herrscht. Darüber hinaus – und dies ist entscheidender – will Kutis Musik einen revolutionären Zeitbogen aus Beginn, Ende und Neubeginn vermitteln, der einst in der Kirchenmusik und Eucharistie enthalten war, aber heutigen, routinierten Kirchgängern bizarr erscheinen muss. Wie bei einem Kino- oder Konzertbesuch vollzieht sich die Anwesenheit in Kirchen mit einem strukturell antirevolutionären Bewusstsein: Alles wird enden, wie es begann. Die ohnehin nie einlösbaren Versprechen zu Beginn (sofern sie in den fünfhundert Jahre alten Songs und deren verklausulierter Sprache vom Kirchenpublikum noch verstanden werden) weisen auf nichts anderes als den nächsten Song, die nächste Veranstaltung. Christen zählen ihr unabänderliches Leben von Sonntag zu Sonntag runter.
Eine Praxis, die Fela Kuti angesichts der Verhältnisse in Nigeria zu recht unerträglich erscheinen musste. Der konvertierte Yoruba-Priester Kuti hat eine ernste Botschaft, und die vermittelt er nicht nur verbalisiert in seinen Texten, sondern auch ästhetisch mit seiner Musik: »Hört genau hin, es wird aufbrechen, es wird einen Riss geben.« Eine Spur glaubwürdigen Hoffens muss zurück in unser Zeitverhältnis gebracht werden. Es gilt, sich klar zu werden, dass es nicht immer so weiter gehen wird. Die aus diesem Zeitverhältnis erwachsende Spiritualität weiß, dass jede Form, jedes Gefäß notwendig gesprengt werden muss, alles was sich dauerhaft eintrichtern lässt, ist leblos und deshalb falsch. Diese Art von Spiritualität, die jede Note Kutis umweht, ist erfrischend unreligiös. Kutis Yoruba-Priestertum ist frei von Dogmen, die ausschließenden Kräfte werden zurückgedrängt gegenüber den einladenden, weltumspannenden. Von diesem Geist beseelt schritt Fela Kuti zur Tat.
»I go open my mouth like basket«
1974 beginnt Kuti, in Nigeria eine alternative Gesellschaft aufzubauen. Die Kalakuta Republic. Sie hat ihre Hauptkirche im »Afro Shrine«, einer einzigartigen Mischung zwischen Nachtclub, politischem Tagungszentrum und Tempel. Im täglichen Wechsel wird zelebriert, diskutiert und musiziert. Auch unzureichend politisierte Besucher sind hingerissen. Die Beatles waren da und Paul McCartney erzählt bis heute, er habe nie ein besseres Konzert erlebt. Irgendetwas liegt in der Luft, eine nervöse spirituelle Aufbruchstimmung herrscht. Die Menschen strömen herbei, bald ist die Kalakuta Republic dem Regime Nigerias ein Ärgernis. Die Ordnungsmacht erwacht, sie duldet weder Aufklärung noch Rausch und ist bereit, mit gnadenloser Gewalt dagegen vorzugehen. Fela Kuti ist vorbereitet. Es ist, als habe er sein Martyrium lebenslang erwartet.
Die Kalakuta Republic wird mit Waffengewalt gestürmt, vor den Augen Kutis werfen die Schergen der Militärdiktatur seine Mutter aus dem Fenster. Nach einem qualvollen Jahr in der Klinik erliegt sie endlich ihren Verletzungen. Ûber Monate wird Kuti gefoltert. Später präsentiert er auf Konzerten in einem Taumel des Triumphes seinen gemarterten Leib. Die Schläge, Erniedrigungen und falschen Anschuldigungen, sie wurden alle Teil seiner Kunst und seines Priestertums. Zum Schweigen brachten sie ihn nicht. Wohl eine Million Menschen besuchten seine Beisetzung im Spätsommer 1997.
General Muhammadu Buhari, jener Mann, der Fela Kuti mit der nachweislich falschen Anschuldigung unzureichend deklarierter Devisen internierte und foltern ließ, ein krankhaft zu nennender Ordnungsfanatiker, der Prügelstrafen für Verkehrsdelikte einführte, wurde im Mai des Jahres 2015 zum Präsidenten Nigerias gewählt. Ein großer Sieg der Ordnung also, die Wahrung der Formen scheint in Westafrika garantiert.
(1) In all seiner Widerwärtigkeit zeigt sich in diesen Tagen, was »freie Marktwirtschaft« meint: Warencontainer können unbehelligt Grenzen passieren, Menschen stehen vor Stacheldraht. Flüchtlinge, die an der Reisefreiheit der Container teilhaben wollen, finden zwischen deren stählernen Wänden ihren grausamen Tod durch Ersticken.
(2) Siehe sämtliche »Handelsverträge« USA/EU mit afrikanischen Staaten.
(3) Rassismus und Nationalismus sind nicht nur Dummheiten sondern auch Illusionen, denn was viele der Verelendeten in Europa hoffen – sie würden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer (höheren) Rasse oder Nation vor gewissen Grausamkeiten bewahrt bleiben – zaubert dem »Beast Of No Nation« – den BesitzerInnen dieser Welt – allenfalls ein müdes Lächeln ins Gesicht.