Der Vulva wurde in der westeuropäischen Kulturgeschichte zu wenig Aufmerksamkeit zuteil. Im Unterschied zum omnipräsenten Phallus oder aber auch zum schlaffen männlichen Penis, marmorn z. B. an der griechischen Statue. Durch ihre schamhafte Bedeckung sind hingegen keine Vulven zu sehen, was zu ihrer Unsichtbarkeit und Schambehaftung führte. Die normierte »Porno-Pussy« hingegen darf z. B. keine überdimensionierten inneren Schamlippen zeigen. Das weibliche Begehren ist in der Mainstream-Pornographie nicht von Interesse. Die männliche Lust benötigt zu ihrer Befriedigung nur ein »Loch«.
Durch die Abwesenheit des Penis wurde die (biologische) Frau lange Zeit als menschliches Mängelexemplar betrachtet. Denn die Vulva mit Klitoris ist für den (biologischen) Mann und die Fortpflanzung entbehrlich. Die weibliche sexuelle Sozialisation bzw. das sexuelle Aufwachsen als Mädchen/Frau ist oft insofern eine Tragödie, als die Idee der Selbstbefriedigung erstmal in weiter Ferne liegen kann und sexuelle Vereinigung mit einer anderen Person stattfindet, bevor sie praktiziert wird. In der Schule lernen alle den Satz des Pythagoras, aber nichts über das hochkomplexe Organ der Klitoris und ihrer Funktionsweise. Wie geil doch, dass die Klitoris das einzige Körperorgan ist, das ausschließlich zum Lustgewinn existiert!
Historie der weiblichen Sexualität
Sigmund Freud unterschied zwischen minderwertigem, unreifem klitoralem Orgasmus im Gegensatz zum erwachsenen, »richtigen« vaginalen. Dieser Unsinn hält sich bis heute! Doch den vaginalen Orgasmus gibt es nicht, sondern jeder ist klitoral: wenn eine Frau zum Orgasmus kommt, ist immer die Klitoris im Spiel! Die Vagina enthält zu wenig Nervenenden und ist zu gefühllos für den Orgasmus. Zum Glück, lässt sich sagen, denn andernfalls wäre das Einführen von Tampons, eines Penis oder die Geburt eines Babys unerträglich.
Wie bedenklich für die weiblichen Sexualitäten, dass die erste vollständige anatomische Darstellung der Klitoris erst 1998 von Dr. Helen O’Connell vorgenommen wurde. Die Klitoriseichel ist nur eine winzige Ausformung der beiden zusammengerechnet 11 cm langen Klitorisschenkel, die im Becken, also im Körperinneren liegen. Was lernen wir daraus? Dass der in der dominanten Heterosexualität überbewertete Raus-Rein-Penetrationsakt nur begrenzte Befriedigung für Frauen, geschweige denn einen Orgasmus herbeizuführen im Stande ist. Was für ein Jammer, dass sich jener Sex aber als »richtiger« ausgibt, der Frauen seltener kommen lässt.
Empowernde Vulven-Fotos
Die Autorin Lisa Frischemeier plädiert am Ende des Theorieteils ihres Fotobandes »I see vulvas everywhere« (Dumont Verlag) dafür, dass nur, wer sich und die eigene Lust kennt, im Bett (oder wo auch immer) nicht nur »bitte lass das«, sondern auch ekstatisch »bitte mach das« sagen kann. Der folgende Hauptteil des Buches besteht in den in unserer Umwelt überall präsenten Vulven-Formen, die reichhaltig und verschiedenstförmig zu finden sind, in unterschiedlichen Weisen und Farben ob als Lederjacke, Frucht, Stein, Kleid etc. Wunderschön ästhetisch und poetisch! Oftmals entfuhr mir ein Lacher: Einmalig die den Vulvalippen gleichenden Hautteile um den Schnabel eines Hahns!
Link: https://www.dumont-buchverlag.de/buch/i-see-vulvas-9783832169367/