Bildausschnitt Hieronymus Bosch: »Der Garten der Lüste« © Wikimedia Commons, Galería online, Museo del Prado, gemeinfrei
Bildausschnitt Hieronymus Bosch: »Der Garten der Lüste« © Wikimedia Commons, Galería online, Museo del Prado, gemeinfrei

100 Jahre Surrealismus #1: Der Anfang und das Wort

Schon der Titel unserer Serie »100 Jahre Surrealismus« ist falsch. Und richtig zugleich. Passt. Selbstwiderspruch gehörte zu jenen Techniken, welche die Surrealisten in den 1920er-Jahren gerne eingesetzt haben.

»100 Jahre Surrealismus« ist falsch, weil Verfahren, welche heute von vielen »surrealistisch« geheißen werden, schon seit Hunderten von Jahren angewandt werden. Denken wir nur an die Bilder von Hieronymus Bosch (* ca. 1450) oder an den Text »Gargantua und Pantagruel« von François Rabelais (* ca. 1494). Wollen wir jedoch surrealistische Werke mit der Manifestation der Bewegung beginnend datieren, dann stimmt unser Motto wieder: Das erste Manifest des Surrealismus hat André Breton 1924 veröffentlicht. 

»100 Jahre Surrealismus« ist falsch, wenn wir Guillaume Apollinaires Dictum als Geburtstag ansehen. In einem 1922 geschriebenen Brief an den Kritiker Paul Dermée vermerkte er, dass es ihm besser erschiene, den Begriff Surrealismus zu übernehmen als jenen des Supernaturalismus, »den ich zuerst verwendet habe«. Hingegen ist unser »Rundes« wieder richtig, wenn wir als erste Erwähnung das Erscheinen einer von Yvan Goll herausgegebenen und nur in einer Nummer 1924 erschienenen Zeitschrift betrachten: »Surréalisme«.

Obschon Philostratos bereits ca. 250 vor unserer Zeitrechnung die Fantasie hoch einschätzt und ihr zubilligt, dass sie auch abbildet, »was nicht zu sehen ist«, wird die Poetik zwei Jahrtausende lang von der Mimesis dominiert, also von der Nachahmung der Wirklichkeit. Denn erst im 18. Jahrhundert entstanden brauchbare Theorien für die Literatur der Unter- und der Überrealität, des Bizarren und des Grotesken. Womöglich hätte die gesamte Weltliteratur eine völlig andere Entwicklung erfahren, wäre nicht das letzte Exemplar von Aristoteles’ zweitem Buch der »Poetik«, jenes über die Komödie, 1327 in einer italienischen Benediktinerabtei verbrannt. Im Roman »Der Name der Rose« von Umberto Eco wird diese Tragödie behandelt. Eco legt der Figur des blinden Bibliothekars, Jorge von Burgos, in den Mund: »Das Lachen ist die Schwäche, die Hinfälligkeit und Verderbtheit unseres Fleisches.« In früheren Zeiten herrschte die Ansicht, das Lachen, das Groteske und Perverse (= Verdrehte) könnten umstürzlerisch wirken. Was die feudalistisch Herrschenden seinerzeit ziemlich fürchteten. 

Magazin »Surréalisme« © Wikimedia Commons, Robert Delaunay, Blue Mountain Project, gemeinfrei

Begriffsfassung im frühen 20. Jahrhundert

»Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist der Surrealismus in allen Büchern und Unternehmungen«, schrieb Walter Benjamin 1929. Luis Buñuel erzählt in seinen Memoiren eine solche Handlung: Zwei französische Surrealisten, Sadoul und Caupenne, lesen 1930 in einem Provinzcafé gelangweilt Zeitung. Dabei stoßen sie auf eine Liste mit Absolventen der Militärakademie. Sie schreiben dem Klassenprimus einen surrealen Brief, indem sie ihn, das Militär und die französische Trikolore wüst beschimpfen. Das Schreiben kommt an und wird einem Gericht übergeben. Daraufhin verlässt Sadoul fluchtartig das Land, Caupenne bleibt und wird festgenommen. 

In den 1920ern formulierte die Gruppe um Breton Regeln und Postulate, ästhetische und politische; letztere mögen aus heutiger Sicht naiv erscheinen. Sie gaben dem Ganzen einen Namen: »Surrealismus«, ein Wort, das sie dem Subtitel eines Theaterstücks entnommen hatten: »Die Brüste des Tiresias, ein surreales Drama«. (Francis Poulenc hat es später als Libretto verwendet, für seine 1944 fertiggestellte Oper. Die im Übrigen erst 2022 vom Ensemble der Wiener Volksoper poppig-fulminant in der Ottakringer Brauerei aufgeführt wurde). 

Also wollen wir festmachen: Als »surrealistisch« bezeichnen wir Werke und Taten, die um und nach 1924 im Geiste der Gruppe der Surrealisten, und im Sinne ihrer Manifeste geschaffen wurden. Andere Werke, die durchaus ähnlich erscheinen mögen, und auch früher, vielleicht sogar viel früher, entstanden sind, wollen wir mit dem Etikett »surreal« versehen. Unsere Serie »100 Jahre Surrealismus« konzentriert sich auf das Surrealistische. Denn davon gibt es mehr als genug. Siehe zum Einstieg auch die ARTE-Dokumentation von Pierre Beuchot und Dominique Rabourdin aus dem Jahr 2002.

Sujet »Die Brüste des Tiresias« 2022 © Volksoper Wien

Ein kleiner Ausblick auf die Serie

Die Serie wurde nicht vorgeschrieben, sie wird im Laufe dieses Jahres erarbeitet. Deswegen bitten wir, den Ausblick als unverbindlich zu betrachten; im Zuge der Lektüren und Recherchen wird sich die eine oder andere Verschiebung ergeben. Die folgenden Themen haben wir ins Auge gefasst:

  • Die Mainfeste des Surrealismus
  • Surrealistische Techniken
  • Surrealismus-Papst André Breton
  • Surrealist*innen 1 – Literat*innen und ihre Werke
  • Surrealist*innen 2 – Maler*innen und ihre Werke
  • Surrealist*innen 3 – Filmemacher*innen und Performer*innen und ihre Werke
  • Die Frauen im Surrealismus und ihre Werke
  • Die Vorläuferbewegung DADA
  • Epigonale Bewegungen und Spuren bisher, in unsere Zeit 
  • Medien über den Surrealismus (Bücher, Filme, Podcasts etc.)

Es wäre gut vorstellbar, dass der Surrealismus dank KI eine Wiederauferstehung mit völlig neuen Mitteln erfährt. Wir werden das beobachten, schließlich haben wir dazu ein Jahr Zeit. Das vor (rund) 100 Jahren geschaffene Wort ist jedenfalls sehr lebendig und alles andere als unbedeutend: Googeln, eine ebenso beliebte, wie zweifelhafte Messgröße unserer Tage, erbringt 0,35 Sekunden nach Eingabe von »Surrealismus« in die Suchmaske knapp 4 Millionen Ergebnisse. (Am 2. November 2007 waren es 186.000 Einträge nach 0,25 Sekunden, wie Peter Gendolla feststellt, die Steigerung ist gewiss zu einem erheblichen Anteil dem allgemeinen Wachstum des Internets zuzumessen.)

Die Lebendigkeit des Begriffes ist wohl einer der Gründe, warum die für dieses Magazin Verantwortlichen zugestimmt haben, unter dem Titel »100 Jahre Surrealismus« eine ganze Serie zu veröffentlichen. Der Autor selbst hat noch ein weiteres Motiv, er feiert ein persönliches Jubiläum: 50 Jahre begeisterte Beschäftigung mit dieser Bewegung und ihren Werken. Deshalb möchte er dem skug Team an dieser Stelle herzlich danken, für die Möglichkeit, diese Serie zu gestalten. Die Leser*innen mögen Freude am Thema haben und sich hoffentlich dazu animiert sehen, fröhlich weiterzusurfen im Ozean des Über-Realen.

Link: 100 Jahre Surrealismus

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Text
Sepp Wejwar

Veröffentlichung
01.02.2024

Schlagwörter

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