Als ich mich in Wien niedergelassen habe, habe ich eines sehr interessant gefunden und geliebt: die Tageszeitungen in Plastiktaschen, die an den Wochenenden (genauer gesagt samstags ab etwa 15:00 Uhr und sonntags) und an Feiertagen an den Stangen der Verkehrsschilder hängen. Das war das erste Mal, dass ich so etwas gesehen habe. Alle Geschäfte sind an diesen Tagen geschlossen. Man kann die Zeitungen nur hier finden. Eine großartige Idee! Über diesen Selbstbedienungstaschen, die man fast überall auf der Straße findet, hängt eine kleine Metallbox. Auf dieser Box, die wie eine Sparbüchse aussieht, steht der Preis der Zeitung. Man kann Geld in diese Box werfen und die Zeitung herausnehmen. Natürlich kann man die Zeitung auch einfach nehmen, ohne Geld in die Box zu werfen. Soweit ich das beobachtet habe, haben die meisten Leute Zeitungen entweder genommen, ohne Geld in die Box zu werfen, oder sie haben nur ein paar Cent eingeworfen. Ich muss gestehen, ich habe auch nicht immer den genauen Betrag dabei, aber ich habe versucht, so ehrlich wie möglich zu sein.
Studium am Wochenende
In meinen ersten Jahren hier konnte ich noch kein Deutsch. Ich erinnere mich, dass ich mir einmal gesagt habe, dass ich so schnell wie möglich diese Sprache lernen und diese Zeitungen lesen sollte. Denn an jeder Ecke stößt man auf eine Zeitung, die Lust aufs Lesen macht und ich bin sicher, dass dies auf viele andere eine ähnliche Wirkung hat. Ich glaube, das hat meinen Wunsch und meine Bemühungen, Deutsch zu lernen, noch verstärkt.
Als ich Grundkenntnisse in Deutsch gelernt habe, habe ich angefangen, die »Wiener Zeitung« zu lesen. Mit der Zeit hat sich mein Deutsch verbessert. Dann habe ich begonnen, »Der Standard« zu lesen, dann den »Kurier« und »Die Presse am Sonntag«. Und seit etwa zehn Jahren lese oder besser gesagt studiere ich regelmäßig die Wochenendausgaben dieser vier Zeitungen, was anfangs ein paar Tage gedauert hat. Denn es hat viele Wörter gegeben, die ich nicht gekannt habe und deshalb ging es mit dem Lesen langsamer voran. Mittlerweile schaffe ich es fast an einem Tag. Aber nur die Wochenendausgaben. Die Wochenendausgaben enthalten im Gegensatz zu Wochentagausgaben themenspezifische Artikel, die über die aktuelle Tagesordnung hinausgehen.
Wenn ich im Ausland war, habe ich Freunde oder Bekannte gebeten, Zeitungen für mich zu holen, was natürlich nicht immer möglich war. Ich wollte auch kein Abo abschließen. Denn hinauszugehen, die aufgehängten Zeitungen zu finden und selbst abzuholen, macht mich immer irgendwie glücklich. Übrigens, neben diesen vier Zeitungen kann man noch zwei Boulevardblätter auf der Straße finden: »Kronen Zeitung« und »Österreich«.
Was es zu lesen gibt
Jetzt möchte ich meine Eindrücke von dieser jahrelangen Routine mit allen teilen: Lassen Sie mich mit den Dimensionen der Zeitungen beginnen, die ich sehr gut finde: Diese vier Zeitungen erscheinen im sogenannten »Berliner Format«. Die Zeitungen haben nicht die Größe einer Bettdecke. Wenn Sie sie im Zug oder im Flugzeug lesen, trifft Ihre Zeitung nicht Ihren Sitznachbar im Gesicht. Es hat mir geholfen, mein Deutsch in kurzer Zeit zu verbessern und Österreich besser und schneller kennenzulernen.
Abgesehen davon, dass ich mich auf dem Laufenden halte, habe ich viele wichtige und manchmal auch unnötige Informationen gelernt. Ich habe zum Beispiel gelernt, wie viele Zebrastreifen es in Wien gibt, nämlich 7.500. In vier Zeitungen kann man interessante Interviews mit ganz unterschiedlichen Menschen lesen: Vom Politiker bis zum Hobbydetektiv, von der Kellnerin bis zur Schauspielerin. Jede Woche gibt es Dutzende Interviews. Ich lese fast alle Interviews in diesen vier Zeitungen. Besonders gerne lese ich die »Letzte Fragen«-Seite in »Die Presse am Sonntag«.
Einige andere Zeitungskolumnen, die ich immer lese: »Wohngespräch« in »Der Standard«. Jede Woche stellen eine Person oder Familie darin ihre Wohnung oder ihr Haus vor. Der Artikel wird durch Fotos unterstützt. Seit Jahren habe ich das Gefühl, dass ich jede Woche ein Haus oder eine Wohnung besuche. Eine andere Zeitungskolumne ist »Hallo, wie geht’s?« von Schriftsteller Manfred Rebhandl, ebenfalls in »Der Standard«. In einem kurzen Text fasst der Autor seine Gespräche mit Menschen zusammen, die er zufällig auf der Straße, im Zug oder im Supermarkt trifft. Übrigens hat diese Kolumne seit etwa einem halben Jahr einen neuen Namen, nämlich »Hallo, was lesen Sie?« und ein neues Format. Diesmal fragt der Autor Menschen des öffentlichen Lebens, was sie momentan lesen. Ich finde das vorherige Format besser, denn die Geschichten der »einfachen« Leute sind noch interessanter.
Inspirierendes und weniger Inspirierendes
Zwei Kolumnen in der »Wiener Zeitung« stehen jedes Wochenende auf meiner To-Read-Liste: »Wiener G’schichten« und »Schwarz & Weiß«. »Wiener G’schichten« bietet interessante Informationen über Wien und seine Menschen. Ich habe das Drehbuch eines meiner Kurzfilme auf der Grundlage eines Artikels geschrieben, den ich vor Jahren in dieser Kolumne gelesen habe. In der Kolumne »Schwarz & Weiß« analysieren jede Woche zum Beispiel ein Fotograf, eine Kulturwissenschaftlerin oder ein Fotohistoriker ein altes Foto, das sie auf Flohmärkten oder hier und da finden. Sie erzählen die Geschichte anhand des Fotos selbst oder anhand der Beschriftung auf der Rückseite. Oder sie versuchen zu raten.
Diese vier Zeitungen veröffentlichen gelegentlich Schwerpunktausgaben. Diese Ausgaben machen das Vergnügen des Zeitungslesens noch schöner. Ein paar Mal habe ich die Amtsblatt-Seiten der »Wiener Zeitung« auch durchgeblättert. Aber es war nicht interessant. Ach, noch etwas: Ich verwende Amtsblatt-Seiten zum Einpacken von Geschenken. Ich finde sie schöner als Geschenkpapier. Ich empfehle es. Sie sparen Geld und die Leute werden es schön finden.
Abschied von der Zeitung an der Stange
Aber alle guten Dinge haben ein Ende. Für mich sind diese Zeitungen (auch Boulevardblätter), die an den Stangen der Verkehrsschilder hängen, eine Art Zierde der Stadt. Wie Weihnachtsschmuck. Leider werden schöne und elegante Ornamente immer weniger: »Die Presse am Sonntag« hat beschlossen, ab April 2020 nur noch online und im Abonnement zu erscheinen. Ich habe sie sofort abonniert, weil ich ein Typ bin, der Zeitungen und Bücher am liebsten auf Papier liest. Aber nach der Chat-Affäre des ehemaligen Chefredakteurs der Zeitung habe ich Zweifel. Manchmal denke ich darüber nach, mein Abonnement zu kündigen.
Interessanterweise ist es seit einem Jahr nicht einfacher, »Der Standard« und »Wiener Zeitung« zu finden. Manchmal muss ich die Straßen Wiens durchkämmen, um diese beiden Zeitungen zu finden. Im Gegenteil: In fast jeder Straße findet man ein paar Selbstbedienungstaschen der Boulevardblätter. Nämlich »Kronen Zeitung« und »Österreich«. Apropos Boulevardblätter: Ich denke, der »Kurier« steht irgendwo zwischen Boulevardblatt und seriöser Zeitung. Aber ich lese ihn trotzdem. Auch ihn kann man überall finden. Diese drei haben sicherlich keine finanziellen Probleme. Vielleicht lesen die Leute sie lieber als seriöse Zeitungen. Deshalb sind sie so präsent und überall zu finden.
Das Traurigste ist, dass die »Wiener Zeitung« bald nur noch online erscheinen wird. Die älteste Tageszeitung der Welt, die seit 1703 täglich erscheint, wird nicht mehr gedruckt, weil der Staat seine finanzielle Unterstützung drastisch kürzen wollte. Soweit ich es verstanden habe, war das eine Idee von Sebastian Kurz und Co. Ich möchte hier den Schriftsteller Franzobel zitieren und meinen Ärger darüber für mich behalten: »Mich stimmt das traurig. Zu wissen, dass es eine ›Wiener Zeitung‹ gibt, hat mich immer beruhigt, sogar dann, wenn ich sie nicht gelesen habe. Manchmal wirkt etwas einfach, indem es da ist. Die ›Wiener Zeitung‹ strahlte stets etwas Gelassenes und Repräsentatives aus – wie der Bundespräsident. Keine billige Kollaboration mit dem Zeitgeist. Keine Anbiederung an die allgegenwärtige Trivialität und Banalität. Die ›Wiener Zeitung‹ hat viele andere Organe und Käseblätter überlebt, deren Verschwinden bedauerlich oder verschmerzbar ist: ›Arbeiterzeitung‹, ›Basta‹, ›täglich alles‹, ›Spatzenpost‹, nein, die gibt es noch … Und was haben wir bekommen? ›Österreich‹ und ›heute‹!« (Quelle: Wiener Zeitung, 20.11.2022)