Gabriel Yoran © Jamil Yassine/Insel Verlag
Gabriel Yoran © Jamil Yassine/Insel Verlag

Wo bei Mahler der Teufel um die Ecke guckt

Gabriel Yoran veröffentlicht für »Krautreporter« die Kolumne »Schleichwege zur Klassik«. Jetzt erschien unter demselben Titel ein Buch, das Texte der Reihe vereint und einen niedrigschwelligen Einstieg in eine nur oberflächlich staubige Welt bietet.

Gabriel Yoran ist Sohn zweier professioneller Musiker*innen und hat rasch einen anderen Weg eingeschlagen, nämlich den des Unternehmers. Trotzdem ist er der Welt der klassischen Musik eng verbunden und bringt seine Liebe zu ihr in niedrigschwelligen Texten auf »Krautreporter« zum Ausdruck. Lai*innen erfahren dadurch mehr über ein Stück und erhalten die Möglichkeit, von der Begeisterung angsteckt zu werden und sich näher mit der Musik zu beschäftigen. 

Yoran spricht zum einen als Sohn, der seiner Mutter beim Tragen ihrer Harfe half und allerlei erhellende Plaudereien zum Besten gibt, die diese für manche fremde und unzugängliche Welt greifbarer machen. Zum anderen ist er ein begeisterter Hörer und greift auf jahrelanges, leidenschaftliches Musikhören zurück. Seine Neugier ist ansteckend und seine Art zu erzählen, hat – ungewöhnlich für das Thema – überhaupt nichts Daddyhaftes oder Abgehobenes. Das macht Lust, ihm in seinen Gedanken zu folgen und die Wege weiterzugehen. QR-Codes für Songbeispiele machen das erschreckend leicht.

Ein Satz, der in »Schleichwege zur Klassik« mehrmals fällt und Yorans Art, Musik zu verstehen und zu vermitteln, auf den Punkt bringt, ist: »Bei Mahler guckt selbst bei den schönsten Stellen der Teufel um die Ecke.« Was damit gemeint ist, steht im Buch, über das skug mit Gabriel Yoran sprach:

skug: Man merkt dir die Begeisterung für das Thema an, aber auch den starken Wunsch, darüber zu sprechen. Woher kommt dieses Bedürfnis?

Gabriel Yoran: Wenn ich etwas mag, möchte ich es teilen – es ist ein Reflex. Es geht mir bei Lebensmitteln und Filmen nicht anders. Bei der Klassik kommt noch dazu, dass ich zu wenige Leute kenne, mit denen ich meine Freude über diese Musik teilen kann – und so fing ich auf Social Media an, unbekannte Stücke zu teilen, die ich mochte.

Dir ist es wichtig, die Welt der »Klassik« besser zugänglich zu machen und von ihrem Mief zu befreien. War sie das historisch gesehen schon mal und hatte dieser Ernst und die Strenge nicht auch etwas Gutes? 

Ich bin sehr für den Ernst. Und das mit der Befreiung von dem Mief – das ist der Versuch, eines Anschlusses an die Vorurteile der vermuteten Leser*innen. Ich selbst empfinde das gar nicht so. Das Miefige an der Klassik ist ja gar nicht die Musik selbst, sondern die Zuschreibung von außen, von Leuten, die keinen Zugang dazu haben, aber viel zu kritisieren: den Klassenhabitus, die Subventionen, das Elitäre – das sind ja alles valide Punkte, aber sie haben mit der Musik selbst fast nichts zu tun.

Wie kann man das umgehen?

Die »Schleichwege« versuchen, diesen Problemen und Belastungen auszuweichen, indem sie meist unbekannte(re) Stücke feiern. Das ist der Versuch, absolute Musik absolut sein zu lassen. 

… und die Biografien der Akteur*innen außen vor zu lassen?

Es nervt mich ja auch, wenn ich in meinem Newsletter ein Stück vorstelle und erstmal dem journalistischen Reflex widerstehen muss, erstmal die Biografie des Komponisten aufzurollen. Es hilft selten, wenn man nicht eh schon tief drin ist in der Musikgeschichte. Insofern wenden sich Biografien einerseits an Kenner*innen (die sie eigentlich nicht brauchen) und die, denen man mit ihnen etwas Neues erzählen würde, bringen sie nichts, weil sie die Biografien nicht einordnen können. Gleichzeitig sind Biografien halt greifbarer und erzählbarer als Musik. Man kann viel leichter über sie schreiben und sprechen als über ein musikalisches Werk. Ich muss dieser Versuchung auch immer wieder widerstehen (und nicht immer gelingt es).

Die Tradition ist zugleich eine Hürde und eine Füllhorn.

In dem Text schreibe ich: »Das ist ja das Geile an der Klassik: Du hast einen riesigen Fundus von über die Jahrhunderte erprobten und immer wieder verfeinerten Formen, an denen du dich abarbeiten kannst, als Musiker*in, aber auch als Zuhörer*in. Du kannst dich zur Tradition verhalten, du musst dich zur Tradition verhalten. Die Tradition ist stark, aber vielleicht bist du ja stärker?«

Die Welt der Klassik scheint vor allem eine europäisch, weiß geprägte zu sein, hinzu kommen Russland, Korea und China. Und eben auch sehr männlich.

Orchester hatten schon sehr viel früher als andere Institutionen ein sehr viel diverseres Personal, zumindest wenn man auf Nationalitäten schaut. Schon in den 1970ern wurden Stellen international ausgeschrieben und Probespiele fanden (zumindest die ersten Runden) hinter Vorhängen statt. Und das Mitspracherecht des Orchesters bei der Besetzung einer Stelle ist auch viel gewichtiger als bei Mitarbeiter*innen in Unternehmen. Aber da man nur Leute besetzt, die das klassische Repertoire beherrschen, werden nur Leute eingeladen, die in ebendiesem ausgebildet sind. Das Repertoire ist praktisch ausschließlich europäisch. Unterrichtet wird es in Europa, den ehemaligen Sowjetrepubliken, China, Korea, Japan, den Amerikas.

Afrika kommt wenig vor …

Afrika kommt tatsächlich fast nicht vor – es mangelt vermutlich an den Ausbildungsmöglichkeiten, also Konservatorien etc. Das mit der »Sichtbarkeit« ist in der Klassik anders, glaube ich, weil die Interpret*innen, wenn es nicht die wenigen Superstars sind, hinter dem Werk verschwinden. Man stellt sich halt in den Dienst des Werkes.

Komponieren lernen kann im Prinzip jede*r. Aber sich dann an einem ganzen Orchester ausprobieren, ist eine andere Sache. Gibt es da eine Entwicklung, auch durch die Möglichkeiten von Computer und Internet?

Ich vermute, dass es da einiges gibt, aber Komponieren kann im Prinzip genauso jede*r wie jede*r einen Roman schreiben kann. In Wirklichkeit kann es halt kaum jemand! Ich kenne fast niemanden, der komponieren will – aber deutlich mehr Leute, die interpretieren, also bestimmte Stücke spielen wollen. Zu komponieren ist ja so eine Sache in der Klassik, weil die Heiligen in dieser Branche so heilig sind, dass man es leicht als anmaßend begreift, noch etwas selbst hinzufügen zu wollen, wo doch schon quasi »alles gesagt« ist.

Dabei wird ja immer weiter Musik »produziert«. Ich denke da gerade an Filmmusik wie die von Howard Shore. Das ist ja jetzt nichts, worüber die großen Dirigent*innen und Musiker jetzt herfallen, oder? 

Was Howard Shore angeht: Filmmusik gilt den meisten ernsten Musiker*innen meist als belanglos, nicht innovativ und extrem repetitiv. Sie erfüllt eine Funktion im Film, was sie verdächtig macht. Filmmusik ist einfach musikalisch kein so interessantes Thema für klassische Musiker*innen. Man spielt sie, weil dann ein anderes Publikum kommt, das man dann vielleicht noch für andere Musik erreichen kann. Auch die Sachen von Max Richter oder Ludovico Einaudi werden bestenfalls belächelt, wenn nicht gleich mit Verachtung gestraft. Das bleibt alles an der Oberfläche, um mal mit dieser ollen Metapher zu arbeiten. Aber es erreicht wahnsinnig viele Menschen, die keine Zeit haben und kein Interesse, sich beispielsweise mit Brahms’ Kammermusik zu beschäftigen, in der unendlich viel mehr drin ist.

Was macht ein Werk für einen Musiker interessant? Es stellt sich beim Lesen für mich die Frage, wie man denn überhaupt dem Begriff Klassik definieren kann. Und ob das überhaupt noch zeitgemäß ist?

Was die Definition von Klassik angeht: I couldn’t care less. Für das Buch benutze ich eine breite Definition (Musik für Instrumente aus dem Symphonieorchester) und selbst an die halte ich mich z. B. bei Alter Musik (Prä-Barock) nicht. Aber es ist eine Tatsache, dass es einflussreiche Formen gibt in der Musik, die eben aus der Klassik herrühren oder dort ihren formalen Höhepunkt hatten. Diese Dinge überleben, so wie der Kern des Dramas überlebt im modernen Kino. Und an der Klassik kann man sich abarbeiten als Künstler*in heute. Ein Beispiel, was das ganz aktuell bedeuten kann, ist Caroline Shaw, über die ich auch mal in einem Beitrag schrieb.

Gibt es da Green und Red Flags, wie: Niemals Karajan hören, bei Dvorak nur Rostropovich, von Bernstein ist alles gut usw.?

Wenn du wirklich Interpretationen vergleichen willst, dann geht das eh erst, wenn du eine Aufnahme richtig gut kennst. Und daher ist es egal wo man anfängt. Bernstein und Karajan sind weder per se gut noch schlecht. Manche Sachen liegen ihnen besser als andere. Und YouTube benutzen. Dirigentin ins Face gucken. Mimik und Gestik angucken. Oder mit Kammermusik anfangen, wenn man mehr Bock hat auf Struktur und die Demokratie des Miteinanders ohne Dirigent*in. Oder ein anderer Zugang wäre der über musikalische Gesten. Darüber schrieb ich in einem anderen Beitrag am Beispiel von Joan Towers »Wild Purple«. Eine Form des Zugangs, für die es erstmal nachrangig ist, wer da interpretiert. Wenn du das Thema Interpretationen vertiefen willst, dann gibt es so Sendungen wie die »Blindverkostung« bei Radio 3 vom rbb. Das ist aber schon was für Fortgeschrittene.

Gabriel Yoran: »Schleichwege zur Klassik«. Insel-Verlag bei Suhrkamp, 2024. 133 Seiten gebunden. DE: € 20,00

Link: https://www.suhrkamp.de/buch/gabriel-yoran-schleichwege-zur-klassik-t-9783458644477

Gabriel Yorans Newsletter ist kostenlos und enthält eine Playlist mit 80 Songs als Einstieg.

Home / Kultur / Readable

Text
Lutz Vössing

Veröffentlichung
02.01.2025

Schlagwörter


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