In ihren letzten Lebensjahren hatte Judy Garland nicht mehr so viele größere Engagements. Live trat sie hauptsächlich (gegen geringes Entgelt und zur Finanzierung ihrer Drogensucht) fast nur noch in New Yorker Schwulenbars auf, falls sie nicht plötzlich in Andy Warhols Factory erschien, um dort dann z. B. Tennessee Williams beim Plausch mit Allen Ginsburg und William Burroughs zu unterbrechen (und natürlich um zu späterer Stunde »Over the Rainbow« zu singen. Dabei lieferte schon die Beziehung zwischen Judy Garland (geboren als Frances Ethel Gumm am 10. Juni 1922) und Hollywood jede Menge Stoff für Melodramen (oder »Frauenschicksale« wie Georg Seeßlen dieses u. a. ja auch von Fassbinder hoch verehrte Genre schon einmal ganz undoppelbödig zusammengefasst hat). Denn obwohl Garland, die bei ihrem Filmdebüt »Every Sunday« 1936 gerade einmal 14 Jahre alt war, als der Kassenmagnet bei MGM galt, bildeten die Gewichtsprobleme und der dann doch eher unglamouröse Girl-Next-Door-Look von Louis B. Mayers »hässlichem kleinen Entlein« eine krasse Antithese zum Glamour-Ideal von Diven wie Hedy Lamarr oder Lana Turner (letztere sollte Garland dann auch noch 1940 die erste große Liebe, den Bigband-Leader Artie Shaw ausspannen).
»Designing Women«
Zwar konnten sich mit Garlands Erscheinung – vor allem in den neun zusammen mit Mickey Rooney zwischen 1937 und 1943 gedrehten Filmen – jede Menge Teenager identifizieren, aber ebenso umgab sie eine gewisse Unsicherheit und auch Unfähigkeit, damaligen Normen von Schönheit und vor allem Weiblichkeit zu entsprechen. Schließlich wurde bei Garland die Methode »Designing Women« angewandt – mittels Hüftkorsetten, Zahnaufsätzen und Nasenkorrekturen (zumindest wurden ihr nicht wie Marlene Dietrich die Backenzähne gezogen, um die Wangenknochen zu betonen).
Den ersten Selbstmordversuch unternimmt sie 1948 mit 26 Jahren nach einem Nervenzusammenbruch am Set von »The Pirate«, einer phantasmagorischen Musical-Allegorie ihres damaligen Ehemanns Vincente Minnellis, wo sie an der Seite von Gene Kelly zu sehen ist. 1950 wird Garland bei MGM gefeuert, nachdem sie, bedingt durch Drogen und Alkohol, drei Filmrollen schmeißt. Von all dem erfährt die Welt brühwarm. Sie gibt eine Reihe von Interviews, die sich als äußerst private und delikate Offenbarungen (wenn nicht sogar Abrechnungen) lesen (und deren »Style« später etwa im bitchy Drag-Gossip bei diversen Andy Warhol Superstars enorm widerhallt). Auch bei späteren Konzerten bestehen die Zwischenansagen von »MGM’s Amphetamine Annie« (Kenneth Anger) immer auch aus Einblicken in ihr ganz persönliches »Hollywood Babylon« (wodurch sie erst recht zur Legende wurde). Hier stellt sie sich der Doppeldeutigkeit von »There’s no place like home« (aus »The Wizard of Oz«) und legt diese offen: Nein, einen Platz wie »home« gibt es nicht, gab es nie und wird es wohl auch nie geben (außer »Over the Rainbow«).
»I Don’t Care«
Jedoch verwehrt sich z. B. Richard Dyer in seinem Essay »Judy Garland and Gay Men« (zu finden u. a. im von Harry Benshoff 2004 bei Routledge herausgegebenen »Queer Cinema, The Film Reader«) auch völlig zu Recht gegen eine allzu simple Rezeption, die Garland vor allem in Sachen Neurosen, Leiden, Einsamkeit, Katastrophen und Flops (nach »The Pirate« wird auch ihr fulminantes 1954er-Leinwand-Comeback »A Star is Born« zum Kassengift) als beinahe archetypische Gay-Ikone ansieht. Zudem kann sie auch nicht allein auf dieses Fan-Segment reduziert werden.
Zwar traf die Analyse »No pill could stop Judy’s pain!« des schwulen Komikers Bob Smith durchaus zu. Aber auf jeden finanziellen, physischen wie psychischen Absturz folgte ein Comeback, das stets neue Maßstäbe setzte, wie etwa 1961 mit »Judy at Carnegie Hall«, dem ersten vergoldeten Doppelalbum der Popgeschichte. Es sind auch weniger die Niederlagen, sondern vielmehr das ewige Aufbegehren (gegen Normen jeglicher Art, worunter auch die Hochzeit mit dem in Hollywood als bisexuell bekannten Regisseur Vincente Minnelli fällt), kombiniert mit einer lockeren »I Don’t Care«-Haltung, die für Dyer dann auch jene Qualitäten darstellen, mit denen Judy Garland gerade vor Stonewall all jene ansprach, die sich immer noch »in the closet« verstecken mussten. Mit Judy Garland stilisiert es sich einfach nicht so gut zum Opfer, dafür eignet sie sich umso besser, um aus so einer Opferrolle herauszukommen. Einen ersten Anfang machte sie dabei schon 1939 als Dorothy in »The Wizard of Oz«.
Oz and beyond
Neben den cineastischen Choreografien von Busby Berkeley gibt es wohl kein Film-Musical, das sich tiefer in die Popkultur eingeschrieben hat als »The Wizard of Oz«. Auch in diesem Kinderbuchklassiker (geschrieben von Frank L. Baum und erstmals veröffentlicht 1900) geht es, ähnlich wie bei Lewis Carrolls Abenteuern von »Alice im Wunderland« (1865) und »Hinter den Spiegeln« (1871) sowie bei J. M. Barries »Peter Pan« (1904), um Parallelwelten voller Wunder (aber auch Gefahren).
Von Kenneth Anger und Jack Smith (dessen »flaming creatures« in »Normal Love« 1963 ein ganz eigenes queer-anarchistisches Oz u. a. zu den Exotica-Klängen von Korla Pandit erschaffen) über John Waters (dessen erster, jedoch abgebrochener Film den Titel »Dorothy, The Kansas City Pothead« haben sollte und als »The Wizard of Oz«-LSD-Remake gedacht war) über Martin Scorsese (»Alice Doesn’t Live Here Anymore«,1974) bis hin zu David Lynchs Oz-Missverständnis »Wild At Heart« (1990) können seine Spuren im Kino verfolgt werden. Von popmusikalischen Referenzen bei Elton John (»Yellow Brick Road«), Ozzy Osbourne, Nirvana, The Melvins (»Ozma«), der unsäglichen Marusha bis hin zu Marc Almond, Matmos, Rufus Wainwright oder Antony Hegarty (Antony and the Johnsons/Anohni) sowie Lady Gaga (über deren Rolle im Remake von »A Star is Born« auch noch einmal gesondert geredet werden sollte) und Björks »Utopia« ganz zu schweigen.
Nicht unerwähnt sollte in diesem Zusammenhang noch einmal John Waters bleiben, der sich erstens immer schon eher mit der »Wicked Witch of the West« identifiziert hat und dabei zugleich auch die nicht ganz unwichtige Frage stellt, wie in aller Welt es Dorothy/Judy Garland überhaupt in den Sinn kommen kann. das kunterbunte Wunderland Oz überhaupt verlassen zu wollen, weil lieber wieder ins sepiakackbraune Kansas zurückgekehrt werden will.
Come out
Dabei wäre der von Harold Arlen (»Stormy Weather«, »That Old Black Magic«) komponierte und von E. Y. Harburg (»April in Paris«, »It’s Only a Paper Moon«) getextete Hit des im Sommer 1939 in die Kinos gekommenen Klassikers bekanntlich beinahe dem Schneidetisch zum Opfer gefallen und wurde erst in quasi letzter Minute noch in den Film mit übernommen. So aber konnte sich »Over the Rainbow« zum geheimen »sound of the closet« entwickeln – zur auch die Regenbogenfahne vorwegnehmenden und mit inspirierenden Sehnsuchtshymne aller sexueller Outcasts around the world.
Oz ist dann auch jenes Technicolor-bunte Paralleluniversum, in dem es (gleich nach der Landung von Dorothy) heißt »Come out, come out, wherever you are«. In dem sich ein Löwe äußerst effeminiert verhält (er trägt stolz eine bunte Schleife im Haar) und sich doppeldeutig als »sissy« beschreibt. Allen »männlichen Helden«, denen wir hier begegnen, fehlt etwas, um sie den gesellschaftlichen Normen entsprechend als Männer bezeichnen zu können – Hirn, Herz, Mut. Selbst die Macht des Wizard of Oz erweist sich als Laterna-Magica-Illusion. Dorothy/Garland respektiert dieses »Anderssein« und sympathisiert mit den Feldern an Differenzen, die sich hier auftun. Kein Wunder, dass der Ausdruck »friends of Dorothy« zum schwulen Erkennungscode und das berühmte »Toto, I think we’re not in Kansas anymore« zum Werbe- und Postkarten-Slogan für Gay Bars wurde.
The key of Q
Ende der 1960er hatte auch die Mainstream-Presse »Miss Show Business« als schwule Ikone erkannt. Während ihre Fans die Konzerte als gleichsam öffentliche wie geschützte Möglichkeiten nutzten, »gay« zu sein, wurden in Artikeln Psychologen zu Rate gezogen und heterosexuelle Fans dringlichst davor gewarnt, bei Garland-Konzerten in den Pausen aufs Herren-WC zu gehen. Garland selbst war sich hingegen ihrer schwulen Fanbase immer mehr als bewusst. Bei Konzerten sprach sie ihre männlichen Fans mit »Madame« an, sang Klassiker wie »Me and My Gal« eindeutig zweideutig und sagte bei TV-Shows auch schon einmal dem Pianisten, dass »Over The Rainbow« heute einmal »in the key of Q« (also wie »queer«) gesungen wird.
Auch über ihr Begräbnis hatte sie klare Vorstellungen, wie ihre Tochter Liza Minnelli einmal erzählte: »When I die I have visions of fags singing ›Over The Rainbow‹«. Was dann ja auch – inklusive selbstgemachter Regenbogenfahnen (!!!) – am 27. Juni 1969 wirklich wahr wurde.
»Doing Gender«
Was Garland dabei auch zu einem Popstar avant la lettre machte, war ihre Fähigkeit (wie das Vergnügen daran), ihr Leben auf der Bühne und der Leinwand als Camp-Extravaganza wie als Parodie auf Geschlechterrollen zu performen. So gehörte zu ihrem Tramp-Outfit in »Easter Parade« (1948) ein sichtbar angeklebter Vollbart und Smokings passten ihr sowieso besser als jedes Kleid.
Bei ihrem ewigen Changieren zwischen Bühnenperson und Privatperson agierte Garland nicht nur ohne Rücksicht auf Verluste, sondern tat dies auch mit einem performativen Rüstzeug, welches vielen ihrer Die-hard-Fans nur allzu gut bekannt gewesen sein mag: Sich selbst zu impersonieren (also »zu tun«, und zwar durchaus schon exemplarisch im Sinne von »Doing Gender«), sich zu verkleiden und zu verstellen, verweist nicht zuletzt auch auf alltägliche nichtheteronormative (Überlebens-)Taktiken. Denn Garland »in drag« ist »nicht bloß die Aufführung eines vergnüglichen und subversiven Schauspiels, sondern eine Allegorie der spektakulären und folgenschweren Art und Weise, »in der Realität sowohl reproduziert als auch angefochten wird.« (Judith Butler) Oder, wie es Andy Warhol in »Popism. Meine 60er Jahre« formuliert: »Jemandem wie Judy zu begegnen, deren Wirklichkeit so unwirklich war, war eine aufregende Sache.«
»Judy stays«
Geführt von der Mafia und gelegen in New Yorks Greenwich Village war das Stonewall Inn in der Christopher Street nicht einfach eine weitere Gay Bar, sondern ein Treffpunkt queerer Subkulturen (also der Subkulturen der Subkulturen). In seinem erstmals 1997 erschienen Essay »Queere Fiktionen von Stonewall« (auf dt. u. a zu finden im von Andreas Kraß in der edition suhrkamp 2003 herausgegebenen Sammelband »Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität« (1997) beschreibt Scott Bravmann die Szene(rie) als gekennzeichnet von jenen, »die in schwuler Politik als ethnische Minderheiten, Drag-Queens, Butch-Lesben, Obdachlose oder Angehörige einer Gegenkultur marginalisiert werden«. Daneben war das Stonewall Inn aber auch die einzige Gay Bar in New York, in der Tanzen erlaubt war, wenn auch nicht in gleichgeschlechtlicher Umarmung. Ebenso mussten Frauen per Gesetz mindestens drei Kleidungsstücke tragen, die sie eindeutig als Frauen identifizierbar machten, Männer in »full drag« wurden bei Razzien ohnehin gleich eingebuchtet.
Wie sehr nun das Begräbnis von Judy Garland am jenem 27. Juni 1969 (bei dem neben 20.000 anderen auch Andy Warhol und Candy Darling anwesend waren) mit den in den frühen Stunden des 28. Juni ausgebrochenen Riots während einer Polizei-Razzia wirklich zusammenhängt, ist seitdem Thema unzähliger Spekulationen. Da die Bar keine Alkohollizenz hatte, wurde sie als Club geführt. Gäste mussten sich beim Eingang mit Namen in eine Liste eintragen und »Judy Garland« war (nicht wirklich verwunderlich) das am meisten benutzte Pseudonym. Auch in Nigel Finchs exemplarischem Film »Stonewall« (1995) wird die Garland-Stonewall-Connection an zentraler Stelle thematisiert: Als die Polizei anrückt und sich in der Jukebox gerade die Judy-Garland-Single »Zing! Went the Strings of My Heart« dreht, wird nicht – wie bisher immer bei einer solchen Razzia üblich – der Strom abgeschaltet. Stattdessen stellt sich eine afro-amerikanisch/puertorikanische Drag Queen vor die Jukebox und gibt mit dem Satz »Judy stays« quasi den Startschuss für die Riots.
Disco »Over the Rainbow«
Andererseits beschreiben Autoren wie Bob Kohler (der nicht nur bei den Riots selbst mit dabei war, sondern auch bei der Black Panther Party sowie der Gay Liberation Front und später als AIDS-Aktivist bei Act Up) Garland auch als »middle-aged darling of the middle-class gays«, die für den queeren Subkultur-Mix im Stonewall Inn nicht wirklich (mehr) von großer Bedeutung war (auch in Nigel Finchs »Stonewall«-Film spielen die Songs der deutlich aggressiveren und moderneren, jedoch auch nach einem fiktiven Utopia/Paralleluniversum benannten Shangri-Las eine weitaus tragendere Rolle). Und wenn schon Garland-Fan und Stonewall-Stammkundschaft gleichzeitig, dann gingen viele davon, so Kohler, schlicht aus Trauer eben genau an diesem Abend nicht aus.
Aber egal, ob es sich hierbei um »queere Fiktionen« (Bravmann) oder einen Popmythos handelt, die Stonewall Riots waren ein radikaler Wendepunkt, ein Bruch, nach dem vieles nicht mehr so war wie vorher. Innerhalb eines halben Jahres wurden die Gay Liberation Front und die Gay Activists Alliance sowie drei Zeitungen gegründet, 1970 gab es in New York und Los Angeles den ersten Christopher Street Liberation Day. Auch die Gesetzeslage änderte sich: Das Verbot gleichgeschlechtlichen Tanzvergnügens sowie von geschlechtlich nicht eindeutig zuordenbaren Outfits wurde außer Kraft gesetzt. Wenig später eröffneten in New York die ersten Diskotheken.
Der vorliegende Text ist die Extended Version eines erstmals 2009 im österreichischen Filmmagazin »RAY« (Ausgabe 06/2009) veröffentlichten Textes.
Vertiefendes Material
Buch: Leighton Brown, Matthew Riemer (Hrsg.): »We Are Everywhere. A Visual Guide to the History of Queer Liberation, So Far« (Ten Speed Press 2019, 368 S., € 36,39)
DVD: Greta Schiller, Robert Rosenberg: »Before Stonewall« (USA 1984, Salzgeber & Co. Medien GmbH 2007)
Pride & Stonewall im Gartenbaukino Wien am 11. Juni 2019
Die Hintergründe der Riots und die Zeit vor den Stonewall-Aufständen im New York 1969 werden in »Before Stonewall« (1984) ausgeleuchtet. Gezeigt wird dieser Film um 21:30 Uhr im Rahmen der »EuroPride Movie Night« am 11. Juni 2019 im Wiener Gartenbaukino. Fredd E. Tree, der in der Nacht der Polizei-Razzia als Barkeeper im Stonewall Inn arbeitete, wird anwesend sein, von den damaligen Ereignissen berichten und Publikumsfragen beantworten. Der zweite Zeitzeuge an diesem um 18:00 Uhr beginnenden Filmabend im Rahmen der EuroPride 2019 wird Jonathan Blake sein. Er war 1984 Teil einer Gruppe homosexueller Aktivist*innen, die sich mit streikenden Bergleuten solidarisierte. »Pride«, zu sehen ab 18:00 Uhr, ist ein ebenso großartiges wie wichtiges Dokument über die Ursprünge der LGBTIQ-Community.