Birobidschan © Alexey »Lifewatch«/Wikimedia © CC BY-SA 3.0
Birobidschan © Alexey »Lifewatch«/Wikimedia © CC BY-SA 3.0

Vom »Altneuland« ins Niemandsland

Tomer Dotan-Dreyfus erzählt in seinem Roman »Birobidschan« Geschichten aus der gleichnamigen sowjetisch-jüdischen Oblast, Michael Chabon in »Die Vereinigung jiddischer Polizisten« von einer jüdischen Kolonie in Alaska und Theodor Herzl antizipierte in »Altneuland« das heutige Israel. Ein Vergleich.

Literatur kann nicht nur Geschichten nacherzählen, sondern beeinflusst auch wesentlich unser Denken und eröffnet neue Horizonte, gebiert mitunter Ideen, die weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Besonders Ideen der Science Fiction, die anfangs wild erscheinen, werden manchmal Wirklichkeit und Teil des normalen Alltags. Platon hat in »Politeia« seine Eindrücke von bestehenden Staatsformen und Ideen für zu verwirklichende Modelle in der Skizzierung einer utopischen Gesellschaft fixiert. Nachdem Theodor Herzl sechs Jahre zuvor unter dem Einfluss der antisemitischen Dreyfus-Affäre im »Judenstaat« seine Ideen für einen pragmatischen Umgang mit der »Judenfrage« in Form von politischem Zionismus vorlegte, brachte er seine Gedanken in »Altneuland« ein weiteres Mal, nun allerdings in Romanform, zu Papier. Ein großer Teil der Handlung nimmt die Wirtschaftsform ein, die Verhandlung mit dem Osmanischen Reich beinhaltet. Die Veröffentlichung des Buches und die Gründung der »Anglo Palestine Company« geschahen zur selben Zeit. Letztgenannte Bank war wesentlich daran beteiligt, erste Siedlungen in Palästina zu ermöglichen.

Jüdische Heimat in Alaska

Eine alternative Geschichte der Wirklichkeit bietet Michael Chabon in seiner Version einer jüdischen Heimstätte in Alaska. Die Stadt Sitka, bis 1867 in russischer Hand, ist wesentlicher Handlungsort seines 2007 veröffentlichten Buchs »Die Vereinigung jiddischer Polizisten« und hatte nie jüdisches Leben. Chabon entwickelt eine alternative Geschichte, in welcher Israel den Unabhängigkeitskrieg 1948 verlor. Durch diese und einige weitere historische Andersheiten geschah es, dass die USA einen provisorischen Raum benannte, in dem Juden als Juden leben, Jiddisch sprechen und mit den Lingit, einer dort (auch in Wirklichkeit) ansässigen Volksgruppe, mehr oder weniger gut zusammenleben. Die Kriminalgeschichte beginnt in einer Zeit, zu welcher der amtierende amerikanische Präsident die Auflösung des provisorischen Stadiums bekanntgab. 

Ein Mordfall ruft den alkoholkranken, geschiedenen Polizisten Meyer Landsmann auf den Plan. Eine rechtsradikale Gruppe plant einen Anschlag auf den Felsendom, um die Wiedererrichtung des Tempels zu ermöglichen. Gemeinsam mit seiner Ex-Frau und Gehilfen wittert man Zusammenhänge in der Welt der Chassiden. Alles spitzt sich zu, das Jüdische und vor allem das Jiddische – Chabon benutzt viele Jiddismen – spielen eine große Rolle in dieser spannenden, dicht und bildhaft beschriebenen Gesellschaft. Alles sehr ernst, aber auch mit einem Augenzwinkern. Alles hätte anders laufen können, ist es auch, die Bedingungen im kalten Alaska sind deprimierend und eine richtige Lösung ist es auch nicht. Neben den großen Fragen – der Religion, dem Messias, der Rückkehr nach Zion – gibt es aber auch Erlösung und Glück in einer Zweierbeziehung. Das verpackt Chabon unterhaltsam profund.

Michael Chabon: »Die Vereinigung jiddischer Polizisten« (KiWi Verlag)

Jüdisches Exil in Sibirien

Wirklichkeit und Fantasie verquickt Tomer Dotan-Dreyfus’ in »Birobidschan«. Stalins Birobidschan, Vorlage für den Roman, wurde 1929 an der Grenze zu China als säkulare, jüdisch-sozialistische Oblast ins Leben gerufen. Das Projekt Birobidschan war eines von vielen im Zuge der nach-revolutionären Korenisazija, im Zuge derer die UdSSR sich vornahm, nichtrussische Volksgruppen ins System einzugliedern. Die Sowjets waren der Meinung, dass die jüdische/jiddische Kultur unwiederbringlich korrumpiert sei und einer Reformation bedürfe. Aus ihrer Sicht mussten sie also von Null anfangen, jiddische Schriftsteller wurden getötet, und im sibirischen Niemandsland sollte das Volk den natürlichen Weg von einer mittelalterlichen Gesellschaft hin zum Kommunismus gehen. Zudem dachte man, Juden von der Ausreise nach Palästina abhalten zu können, was jedoch nur teilweise gelang. 

Aus einer Mischung von Antisemitismus und geo-strategischen Hintergedanken – man wollte im Grenzgebiet zur Mandschurei einen Außenposten schaffen – setzte man Birobidschan kurzerhand ins am weitesten entfernte Sibirien. Selbst auf der Karte hätte auffallen müssen, dass das so nicht funktionieren kann. Die Landschaft ist kaum bewohn- oder bewirtschaftbar. Der Faktor Mensch wurde von den nichtjüdischen Kommunisten (die jüdischen Opponierten) geflissentlich ignoriert. Einige, nicht nur aus Russland, siedelten sich an, die allermeisten flohen aber schnell genug wieder, wenn sie nicht 1952 Stalins antijüdischen Säuberungen im Zuge der Doktorverschwörung zum Opfer fielen. Immer wieder gab es wirtschaftliche Anreize, Menschen in die unwirtliche Gegend zu bringen, so beispielsweise 1946, doch lange hielt es niemand aus.

Mit dem Ende der UdSSR suchten auch die letzten das Weite, in den besten Zeiten lebten 20.000 Juden in Birobidschan, heute sind etwa ein Prozent der etwa 75.000 Einwohner jüdisch. Neben Russisch wird noch immer auf Jiddisch unterrichtet. Wäre die Geschichte anders verlaufen, wäre Israel vielleicht nicht notwendig geworden, wäre der Lebensmittelpunkt der jüdischen Gemeinschaft vielleicht hier verortet worden. Dies im Hinterkopf, beginnt Dreyfus’ Erstlingsroman mit nur einer kurzen Einführung. Durch falsche Versprechungen wurden sie angelockt. Als einfache, arme Leute leben sie nun dort und kriegen vom Rest der Welt nur einmal in der Woche über die Zeitung etwas mit. Alles ist trist, man trinkt. Dreyfus erzählt die Geschichte dieser quasi hermetisch von der Außenwelt abgeriegelten Welt mit ironischem Witz.

Geschichten aus dem Niemandsland

Erzählt wird die Geschichte von Joel, einem jungen Mann und hohem Tier im Arbeiterbund, und seinem kleinen Bruder Alex, der Rahel liebt und das Leben in Birobidschan verbessern will. Die Welt ist nur mehr oder weniger in Ordnung. Jetztzeit. Ein Mensch starb. Zeitsprünge ins Jahr 1965 und 1932. Und noch ganz viele andere Personen. Zwei Männer tauchen auf, sie künden Unheil an, wollen, was seltsam ist, Bären jagen. Das Wort Tunguska fällt, und wer es kennt, muss nun unweigerlich an »X-Files«, Season 4, Episode 8 und 9 denken, in denen die Agents Mulder und Scully sich mit Geheimnissen in Sibirien beschäftigen und dabei auf die Ereignisse aus dem Jahre 1908 anspielen, wo aus noch immer nicht endgültig geklärten Gründen massenhaft Bäume umfielen. Ein Kind taucht auf – woher, weiß niemand. Das ist ein weiterer Erzählstrang, der hier geöffnet wird.

In mehr als 70 Kapiteln werden nun also verschiedene Storys erzählt. Das ist teilweise recht heiter, manchmal sind die in vielen Kapiteln verstreuten Gespräche doch nicht wirklich überzeugend, oftmals etwas klamaukig und irgendwann ermüdend. Die Figuren bleiben viel zu oberflächlich beschrieben, teils nur angedeutet, und durch die Sprünge in der Zeit sowie die relative Kürze der Kapitel ist die Handlung irgendwann etwas verwirrend und hemmt den Drive der Story. Handlungsstränge verlieren sich, finden sich später wieder, und stellen kaum mehr einen Gegenstand von Interesse dar. Man will hier viel zu viel auf einmal, eigentlich vielversprechende Ereignisse (Scully und Mulder, das seltsame Kind, Tunguska) bieten wahnsinnig guten Stoff. Lokalkolorit, Jiddismen, Jüdischkeit, Sozialismus, die generelle Geschichte der Oblast im Kontext der UdSSR, aber auch die Kriminalgeschichte werden jedoch zu wenig ausgearbeitet, sodass die Geschichte am Ende leider wie ihr Vorbild, Birobidschan, als gescheitertes Experiment ausklingt.

Tomer Dotan-Dreyfus: »Birobidschan« (Voland & Quist)
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