Foto: Andrew Bowman
Foto: Andrew Bowman

Vinylrauschen und Erinnerungsentschleunigung: Philip Jeck

Anlässlich des Auftritts des englischen Musikers Philip Jeck beim Projekt »TablesAreTurned« von Bernhard Lang werden Wiederholung, Loops und Turntablism in einer aktuellen Standortbestimmung betrachtet.

Text original publiziert für wienmodern (Hg.): »wienmodern Festivalkatalog«, 2011, 102-105.

 

There’s not a problem that I can’t fix

‚Cause I can do it in the mix.
Indeep: »Last Night A DJ Saved My Life«, 1982

You can never play a record the same way for the same crowd. That’s why remixes happen.
Memory demands newness. You have to always update your archive.

Paul D. Miller aka DJ Spooky That Subliminal Kid: »Rhythm Science«.
Cambridge (MA): MIT Press 2004, 8

 

Rotationen und Loops haben sich als zwei der essentiellen Theorie- und Musikpraktiken des 20. Jahrhunderts erwiesen. War die Kulturgeschichte bis Ende des 19. Jahrhunderts stark mit dem bildungsbürgerlichen Ideal des »genialen Künstlers« assoziiert, so wurde diesem Ansinnen mit den Readymades von Duchamp, Dada, Punk, Andy Warhol und vielen anderen radikal der Boden unter den Füßen entzogen. Walter Benjamins »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar- keit« (1935), »Differenz und Wiederholung« von Gilles Deleuze (1968) oder Friedrich Kittlers »Grammophon Film Typewriter« (1986) lieferten theoretische Grundlagen für eine Musikpraxis, die seit den frühen Siebzigern mit DJing, HipHop und später mit Sampling zum Standardrepertoire wurde. Allerdings hatte John Cage bereits 1937 in seinem Essay »The Future of Music: Credo« auf die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten des Plattenspielers hingewiesen und ihn zum Instrument erklärt.

Damit wurde ein Paradigmenwechsel eingeleitet, der erst an die dreißig Jahre später seine praktische Verwendung finden sollte. Interessanterweise indes nicht durch (semi-)akademische Zirkel anglo- amerikanischer Kunstproduktion, sondern durch die jamaikanischen Soundsysteme und ihre DJs, den Vorläufern des HipHop.

Gleichzeitig fand in den Diskotheken von New York und Chicago ebenfalls eine Revolution statt: Ende der Sechziger entstand dort jenes Bild des DJs, wie man ihn heutzutage kennt. Francis Grasso, Larry Levan, Walter Gibbons oder Kool DJ Herc gaben sich nicht mehr damit zufrieden, Platten (»vinyls«) einfach nur auf den Plattenspieler (»turntable«) zu legen. Sie extrahierten aus Disco- und Funk- Stücken markante Instrumenten- oder Rhythmuswechsel (»breaks«), isolierten und erweiterten sie ad infinitum. Dies geschah durch »loops«, indem die Breaks auf den Platten z. B. mit Stickern markiert und immer wieder durchgespielt wurden.

Am einfachsten erhält man ein Loop, indem man die Plattennadel in der Auslaufrille einer Platte belässt. Platten laufen standardmäßig auf 33 und 45 Umdrehungen pro Minute (»rounds per minute/ RPM«), der Pitch-Regler verlangsamt oder beschleunigt die RPMs und mit dem Crossfader am Mischpult lässt sich von einem Loop ins andere blenden.

Diese Montagenmusik führte zu erstaunlichen Ergebnissen wie etwa Gibbons‘ Remix der Disco-Nummer »Ten Percent« (1976) von Double Exposure, zu »The Adventures of Grandmaster Flash on the Wheels of Steel« (1981) von Grandmaster Flash oder zu »Rockit« von Herbie Hancock und Grandmixer D.ST zwei Jahre später. Von Fluxus inspiriert, erforschte Christian Marclay zur gleichen Zeit mit »Brown Rain« jene Territorien, die sich in den Folgejahren zum Turntablism verdichten sollten und die in den Experimenten der Musique Concrète oder bei Steve Reich (»It’s Gonna Rain«, 1965 und »Come Out«, 1966) vorgelegt worden waren.

In der afroamerikanischen DJ-Tradition dient das Vinyl als eine in der Zeit festgefrorene Geschichte, die durch den Turntable revitalisiert wird. »HipHop may rewrite tradition, but it never rejects it«, stellt der Musikjournalist Peter Shapiro fest. (1) Turntablism dagegen steht in der Tradition der Ready-mades, wobei De- und Rekonstruktion wichtige Rollen spielen. Während DJing Beats und Breaks restrukturiert, verzahnen sich im Turntablism Flächen und Soundscapes zu einer akustischen Affirmation der Fehler im System. Turntablism verortet Referenzlinien weniger in der Musik selbst als in der Kunstästhetik: altes, rauschendes und krachendes Vinyl, zerbrochene oder zusammengeklebte Platten, der Turntable als Perkussionsinstrument. Turntablism macht jene Geräusche hörbar, die über das Plattenauflegen hinausragen.

 

So oder so mutiert die Nadel des Plattenspielers zum Peilsender für Sounds der Vergangenheit, aus denen durch haptische Manipulationen Sounds der Zukunft entstehen. Der Plattenspieler wird zur geschichtsmächtigen Jukebox umgerüstet, mit der man, wie es Philip Jeck ausdrückt, »Musikge-schichte mittels Fingerspitzen steuert«. Die Wiederholung von signifikanten Einheiten – den Breaks oder Klangpassagen – zoomt in den Fluss von Rhythmen und Geräuschen, Loops generieren mikro- historische Strukturen, die der Platten-Spieler zu Metatexten formt. Platten spielen ist also eine Collagenstrategie oder ein Burroughssches Cut-Up par excellence.

In den späten Neunzigern machte Techno den DJ omnipräsent, womit eine inflationäre Begriffs-definition einherging. Während DJing zu einer der Säulen populärkultureller Musikproduktion wurde, mutet es erstaunlich an, dass es nach wie vor nur wenige Musiker gibt, die sich mit der Materialität von Plattenspieler und Vinyl auseinandersetzen. Immerhin haben die letzten Jahre gezeigt, dass Turntablism mit Wegbereitern wie Marclay, John Oswald, David Shea, Marina Rosenfeld, Otomo Yoshihide oder Philip Jeck immer vielfältiger geworden ist: Platten-Spieler beginnen, ähnlich wie Gitarristen oder Violinisten, ihren eigenen Sound zu entwickeln. Österreichische Turntablisten sind etwa dieb13 oder Wolfgang Fuchs.

 

Remix: Der Turntable als Wissensspeicher

Die Hände sind das Werkzeug. Sie sind nach dem Bewusstsein das zweitgrößte Werkzeug des Menschen. Es ist schwierig, ohne Hände ein DJ zu sein, ohne Hände Musik zu machen.
Jeff Mills (2)

Für Philip Jeck bildete DJing das Grundgerüst, auf das er für seine Tuntable-Musik aufbaut: »Ich kam über das DJing zur Musik. 1979 war ich in New York auf Besuch bei Freunden, die mir die dortige Discoszene zeigten. Damals lebte ich in London und legte bei großen Clubveranstaltungen auf, mein Zugang zum DJing war nicht HipHop im Stil von Grandmaster Flash sondern der von Disco-Pionieren wie Levan oder Shep Pettibone. Der Aufenthalt in New York war eine große Inspiration, zeigte mir aber, dass ich Leute nicht notwendigerweise zum Tanzen bringen, sondern andere, »seltsame« Sounds in meine Sets integrieren wollte. Mit Bekannten der Improvisationsformation London Music Collective begann ich dann zusammenzuspielen. In dieser Zeit arbeitete ich mit einigen Tänzern und produzierte Soundtracks. Eine der wichtigsten Kollaborationen war die mit dem Choreografen Laurie Booth, die bis in die mittleren Neunziger anhielt.«

Nach wie vor ist Jeck dem Tanz verbunden. So steuerte er den Soundtrack für den Film »There Is A Place« der schottischen Tanzkompanie Go-At bei, der beim heurigen San Francisco Dance Film Festival den Jurypreis erhielt.

Philip Jeck, 1952 geboren, studierte Bildende Kunst am Dartington College of Arts in Devon. Wie bei vielen anderen Musikern auch, bedeutete Punk in Kombination mit den britischen Art Schools für Jeck einen Background, bei dem die Verfügbarkeit von Musikgeschichte via Vinyl und Turntable auf kunsttheoretische Ûberlegungen zur deren Materialität traf. Daraus entwickelte sich ein Set-Up, für das er nur einen Minidisk-Recorder, einige Effekte, ein Sample-Keyboard und zwei Plattenspieler benötigt.

Er verwendet nicht den DJ-Standard Technics 1210, sondern tragbare Turntables der Marke Densette. Die umfangreichste Arbeit fand für die Installation »Vinyl Requiem« (1993) statt, bei der 180 Densettes in Aktion traten. Der Musikwissenschafter Simon Waters schreibt: »A recurrent conviction is that old and »restrictive« technologies need not inhibit expressive possibility – that the most significant aesthetic constraints are those of imagination rather than technology, which is the ideology informing for example Philip Jeck’s performances.« (3)

Schon hierin lässt sich Jecks Affinität zur Historizität erkennen: Die von der Londoner Firma Densette in den fünfziger und sechziger Jahren hergestellten Plattenspieler »bedeuteten einen entscheidenden Schritt für die Etablierung englischer Popkultur, weil durch die Densettes Jugendliche in ihrer Musik- rezeption mobil wurden. In praktisch jedem englischen Jugendzimmer stand damals ein Densette«, so Jeck.

»Wie altes Vinyl stellen auch diese Plattenspieler Geschichte her. Sie haben ihr eigenes Leben und funktionieren nie gleich. Während man mit einem Technics nur Standardformate spielen kann, sind mit einem Densette »exotische« Formate wie 78 und bei manchen auch 16 RPM möglich. Dadurch erweitern sich Manipulationsmöglichkeiten beträchtlich. Generell mag ich es, Dinge zu verlang- samen: Wenn man eine 78-RPM-Schellacksingle auf 16 RPM laufen lässt, können dabei sehr spannende Dinge passieren.«

Jeck beantwortet die Frage nach der Größe seiner Plattensammlung mit »immens. Mir gefällt nicht nur Klangkunst und auf Flohmärkten gefundener, komischer Kram, sondern besonders Musik aus meiner DJ-Phase der späten Siebziger. Und außerdem habe ich ein beträchtliches Archiv an Reggae-Platten.«

Diverse Auszeichnungen hat Jeck erhalten, so u. a. 1993 den Time Out Performance Award für »Vinyl Requiem«, 1999 den Karl Sczuka Förderpreis für Radiokunst für »Vinyl Coda II« und 2009 den Paul Hamlyn Foundation-Preis für Komposition. Mit Gavin Bryars wurden dessen Stück »The Sinking of the »Titanic«« (2005) und »Suite – Live in Liverpool« (2009) eingespielt. »Suite« wurde auf der heurigen Ars Electronica mit dem Anerkennungspreis in der Kategorie Digital Musics & Sound Art gewürdigt. Aus dem umfangreichen Pool an Kollaborationen seien kursorisch erwähnt: Fennesz, Jaki Liebezeit, Jah Wobble, Otomo Yoshihide, Janek Schäfer und Jacob Kirkegaard. Mit Bernhard Lang verbindet Jeck eine langjährige kollegiale Freundschaft, markanteste Resultate davon sind das Projekt War Zones mit dem Stück »Paranoia« für die Donaueschinger Musiktage 2007 und »TablesAreTurned«.

 

Geschichtsschlieren aktualisieren: »An Ark for the Listener« und »TablesAreTurned«

Liverpool.jpg»An Ark for the Listener« ist Jecks zehntes Soloalbum und sein sechstes für das Londoner Label Touch. »An Ark« ist eine klangliche Meditation zum Gedicht »The Wreck of the »Deutschland«« des Lyrikers Gerard M. Hopkins über die Havarie der »Deutschland«, bei der 1875 fünf Nonnen ertrunken waren. »An Ark« reiht sich in die vorangegangenen Werke »The Sinking« und »Suite« ein: die atmosphärisch dichten Cluster erscheinen oberflächlich be- trachtet karg. Indes versetzt das mäandernde, durchdringende, gleichermaßen anheimelnde wie unheimliche Rauschen das Kopfkino in Rotation. Spielen sich die Szenen nun über oder doch unter Wasser ab?

Diese für Jeck typische, Vexierbild-artige Soundarchäologie transzendiert »An Ark« in einen Zustand jenseits bestimmbarer Bewusstseinskategorien. »Normalerweise stelle ich für eine Veröffentlichung eine Sammlung von Aufnahmen zusammen. »An Ark« war das erste mono- thematische Album. Um den Live-Charakter der Nummern zu dokumentieren, werden die meisten Konzerte mitgeschnitten und per Minidisk editiert.«

Grundlage der Zusammenarbeit Jeck – Lang für »TablesAreTurned« bildet die gleichnamige Nummer der deutschen Krautrockband Amon Düül II von 1972. Wie schon bei »The Sinking of the Titanic«, ist auch hier das römische Ensemble Alter Ego mit von der Partie. Jeck bekam von Lang bearbeitete Partikel des »TablesAreTurned«-Stücks auf Vinyl, daraus macht Jeck Kadenzen, über die dann in Kombination mit dem Ensemble improvisiert wird und ein Live-Mix n-ter Ordnung der Amon-Düül-Nummer entsteht.

»Ich habe acht Ausschnitte des Stücks als Platten. Diese Teile werden während des Konzerts entweder spontan arrangiert oder folgen den Vorgaben von Langs Notationen. Für jene Teile, die im Timing präzise sein müssen, mache ich auf meinem Minidisk Führungspunkte für die Einsätze. Derartige Arbeitsmethoden mögen im digitalen Zeitalter antiquiert wirken. Mir behagt indes dieses Moderni- tätsdiktum nicht besonders. Die meisten meiner Videoarbeiten sind zwar digital. Für meine Musik aber funktioniert die klinisch saubere digitale Materialität nicht. Ich liebe den Low-Fidelity-Gestus alter Platten, ihr Sound ist wie ein zusätzlicher, natürlicher Filter. Außerdem: Selbst nach gut dreißig Jahren Musikproduktion habe ich das Gefühl, bisher nur die Oberfläche eines analogen Set-Ups angekratzt zu haben.«

Und er fährt enthusiastisch fort: »Ich werde wahrscheinlich nicht lange genug leben, um all die Gestaltungsvariationen von Turntables und Vinyls ausschöpfen zu können.«

 

Bernhard Lang/Philip Jeck/Alter Ego: »TablesAreTurned«
14.11.2011, Wiener Konzerthaus | Berio-Saal

Tables.jpg

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(1) Peter Shapiro: »Deck Wreckers. The Turntable as Instrument«, in: Rob Young/The Wire (Hg.): Undercurrents. The Hidden Wiring of Modern Music. London: Continuum 2002, 172.

(2) Interviewpassage zit. nach: Tom Holert: »Jeff Mills: Haptiker und Plastiker«, in: Jochen Bonz (Hg.): Sound Signatures. Pop-Splitter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, 126.

(3) Simon Waters: »Beyond the Acousmatic: Hybrid Tendencies in Electroacoustic Music«, in: Simon Emmerson (Hg.): Music, Electronic Media and Culture. Aldershot: Ashgate 2000, 77.

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