Bérénices Lebensbericht beginnt mit »Alles verschlingt mich« und endet mit »Heldinnen konnten sie gerade gut gebrauchen«. Dazwischen entfalten sich die Kindheit und Jugend einer Protagonistin, die sich dem Auslösen von Dramen verschrieben hat. Die Vernunft der Erwachsenen will sie um keinen Preis annehmen, lieber den älteren Bruder verehren und vorsätzlich ?bertretungen betreiben. Wortgewandtes Kinderspiel und philosophischer Ernst gehen bei Bérénice, die sich des literarischen Unterbaus ihres Namens durchaus bewusst ist, Hand in Hand. Das Leben dieser Komplexen, dieser Frühreifen, die sich vorgenommen hat keine dreißig Jahre alt zu werden, ist für sie eine Schule der Geringschätzung und Verweigerung. Ihr letztlich uneingelöstes Verlangen ist Teil eines gewaltigen, tragikomischen Wortflusses.
Bérénice ist eine Semantisierungsterroristin, die sich dem Grauen des alltäglichen Lebens aussetzt, um es zu überwinden: »Das Leben spielt sich nicht auf der Erde ab, sondern in meinem Kopf. Das Leben ist in meinem Kopf, und mein Kopf ist im Leben. Ich bin umfangen und umfangend. Ich bin die vom Verschlungenen Verschlungene.« Diese harte und überaus verletzliche Person ist der gelebte, personifizierte Widerspruch, ein zur Kindsfrau verdichteter Kippmoment. Das von ihr beschriebene Existenzdrama bleibt für die Leserschaft nicht ohne Vergnügen, fordert aber seine Opfer: der Bruder entfremdet sich, die beste Freundin erliegt den Folgen eines Autounfalls, die Gefährtin der späteren Jahre stirbt im Kugelhagel. Der struggle um Identität hört für Bérénice bis zuletzt nicht auf. Ohne Herz, so muss sie feststellen, lebt es sich denkbar schlecht. Und mit Herz bleibt man verwundbar und offen. Als kindlich-grimmiger Maldoror kämpft sie sich durch die widrigen Umstände, die Ducharmes Buch, das 1966 erstmals veröffentlicht worden war, so grundlegend ausmachen.
Literarische Behausungen
In der Verweigerungshaltung gegenüber der Üffentlichkeit und den Ansprüchen des literarischen Betriebs ist Ducharme seiner Heldin gar nicht so unähnlich. Der vorliegende Roman, der im Anschluss an europäische Traditionen und Tendenzen zu sehen (und wohl auch zu interpretieren) ist, speist sich in seiner Verhandlung der verkommenen Erwachsenenwelt aus der Nähe zum Nouveau Roman. Wie auch in späteren Arbeiten des Autors steht die Ablehnung der Wirklichkeit und der Ordnungssysteme der sogenannten Normalität im Vordergrund. Es erweist sich bei vergleichender Lektüre als das identitätsstiftende Merkmal der Protagonistinnen und Protagonisten im eigenen Handeln und Sein die vom Umfeld befürwortete Trennung zwischen Realität und Idealvorstellung nicht mitzumachen. Im Lauf der sich entfaltenden prozessualen Konflikte bricht die Wirklichkeit aber unaufhörlich in die mit militärischem Ernst und heißem Elan abgesteckten Privatwelten und Alternativentwürfe ein. Dass dabei die literarische Tätigkeit als Zuflucht, als Möglichkeit der Flucht und Neupositionierung in einer als verdorbenen, ja verrückt wahrgenommenen Umwelt erkannt werden, ist nur konsequent. Lesen und Schreiben erweisen sich deshalb auch für die eigenwillige Bérénice als Optionen der Hoffnung und Selbstbestimmung: »Ich finde Gefallen am Lesen. Ich versenke mich in alle Bücher, die mir in die Hände fallen, und tauche erst wieder aus ihnen auf, wenn der Vorhang fällt. Ein Buch ist eine Welt, eine fertige Welt, eine Welt mit einem Anfang und einem Ende. Jede Seite eines Buches ist eine Stadt. Jede Zeile ist eine Straße. Jedes Wort ist eine Behausung.«
Réjean Ducharme: »Von Verschlungenen verschlungen« Aus dem Französischen von Till Bardoux. Deitingen: Traversion 2012, 320 Seiten, EUR 19,-