Der linke Polit-Influencer Ole Nymoen hat der Wehrpflicht mit seinem Artikel »Ich, für Deutschland kämpfen? Never!« in der »Zeit Online« den Krieg erklärt. Mit dem Büchlein »Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde – Gegen die Kriegstüchtigkeit« (Rowohlt) hat er dann schwerere Geschütze aufgefahren und für seine Ansichten in praktisch jeder Talkshow, jedem Podcast und jedem Feuilleton des Landes gestritten. Und auch an der Social-Media-Front war er stets abwehrbereit. Dass diese Kriegstüchtigkeitsdebatte auf eine merkwürdige Weise unterkomplex geblieben ist, hat einen Grund: Man versteht sie erst wirklich, wenn man Nymoens Ansichten zur Demokratie kennt.
»Demokratie«: Herrschaft einer politischen Elite?
Ole Nymoen sieht in modernen Nationalstaaten künstlich entstandene Gemeinschaften, deren Grenzen historisch oft durch Gewalt und Kriege festgelegt wurden. Er fordert darum ihre Abschaffung, da wirtschaftliche Konkurrenz und machtpolitisches Streben aus seiner Sicht die Hauptursachen kriegerischer Auseinandersetzungen darstellen. Was in Europa als »Demokratie« bezeichnet wird, ist für ihn lediglich die Herrschaft einer politischen Elite. Diese Elite ist in erster Linie daran interessiert, die bestehenden Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten. Aus seiner Sicht macht es kaum einen Unterschied, welche Partei regiert, am politischen System selbst ändert sich dadurch grundsätzlich nichts.
Damit die Bevölkerung dennoch das Gefühl hat, politisch mitbestimmen zu können, werden regelmäßig Wahlen abgehalten. Diese dienen laut Nymoen vor allem zwei Zwecken: Erstens erzeugen sie eine symbolische Scheinlegitimation für die Herrschaft der Eliten, zweitens fördern sie die Loyalität der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat und seinen Institutionen. Diese Loyalität wiederum gilt ihm als zentrales Machtinstrument des Staates; sie schafft die Voraussetzung für den staatlichen Zugriff auf das Individuum. Ein prägnantes Beispiel dafür sieht Nymoen in der Wehrpflicht. Der Einzelne wird dabei gezwungen, für die Interessen des Staates zu kämpfen, selbst wenn er diese nicht teilt. Die Bürgerinnen und Bürger in den liberalen Demokratien sind für ihn also keineswegs der Souverän, sondern lediglich Objekte einer politischen Machtelite, die einen subtilen Zwang ausübt.
Bei seinen Talkshow-Auftritten zum Thema »Wehrpflicht« stößt Nymoen immer wieder auf großes Unverständnis. Zuschauer*innen und Moderator*innen halten ihm häufig entgegen, dass die Demokratie es doch wert sei, verteidigt zu werden. Da es für Nymoen in Nationalstaaten jedoch keine echte Demokratie geben kann, hält er dieses Argument für nicht stichhaltig. Es irritiert ihn sogar sichtlich, dass es von seinen Gesprächspartner*innen überhaupt vorgebracht wird. Entsprechend scharf fällt sein Urteil über das Publikum aus. »Ich denke, es sind Menschen, die wirklich von diesem System profitieren«, erklärt er. Vielleicht seien es Beamte. »Also solche, die irgendeinen Bullshitjob machen, der in Ordnung bezahlt wird und ihnen nicht zu viel Energie abverlangt.«
Individuelle Freiheit versus kollektives Bewusstsein
Nymoens Fundamentalkritik am Nationalstaat wird von ihm in linkem Theoriejargon vorgetragen. Er selbst sieht sich als Sozialist. Und obwohl es für ihn sicher völlig inakzeptabel wäre, da sein theoretischer Background ein völlig anderer ist, verbindet ihn seine Kritik der liberalen Demokratie mit dem kalten Chronisten Ernst Jünger, einem unter Alt- und Neurechten vielgelesenen Schriftsteller aus dem Umfeld der Konservativen Revolution. Nymoens verstörende Aussage »Ich würde lieber in Unfreiheit leben, als für die Freiheit zu sterben« kann nirgendwo an linkes Denken anschließen. Er scheint die Solidarität mit bedrohten Minderheiten oder Berufsgruppen einfach wegzuwischen. Im Mittelpunkt steht sein Ego. Seine Ablehnung des Wehrdienstes basiert in dieser Hinsicht lediglich auf der Verweigerung individueller Vereinnahmung durch den Staat. Er spricht zwar im Vokabular der Linken, aber seine Tonlage ist eher die eines entschlossenen Individualisten.
Das macht seine Ausführungen anschlussfähig an Ernst Jüngers »Der Waldgang«. Ähnlich wie bei Nymoen erscheint Demokratie in diesem 1958 erschienenen Essay nicht als Garant der Freiheit, sondern als subtiler Zwang, der sich als Konsens tarnt. Wahlen mit hohen Zustimmungswerten sind für Jünger keine Zeichen legitimer Herrschaft, sondern ein Symptom ideologischer Vereinnahmung. Die wenigen »Nein«-Stimmen sind aus seiner Sicht die Vorboten eines kommenden Widerstands. Aus diesem »Widerstand« entwickelt er die Figur des Waldgängers als Antwort auf moderne Massenkulturen. Der Waldgänger ist der Einzelne, der sich innerlich von der Masse abkehrt, um seine individuelle Freiheit zu bewahren. Ein Waldgänger kann in jedem politischen System (über-)leben, denn seine Freiheit hängt nicht von den äußeren Umständen ab. Freiheit ist für ihn ein autonomes Sich-Loslösen vom kollektiven Bewusstsein der vereinnahmten Massen. Der Waldgänger ist also auch in äußerlicher Unfreiheit frei, weil er ein radikaler Individualist ist, einer, der sich von keinem etwas sagen lässt, sondern unauffällig sein Ding durchzieht. Solidarität kennt der Waldgänger nicht. Und hier schließt sich der Kreis zu Ole Nymoen.
Das tut er auch noch an einer weiteren Stelle. In seinem 1960 erschienenen Essay »Der Weltstaat« erblickt Jünger, ähnlich wie Nymoen, den Nationalstaat als ein Grundhindernis für das freie und friedliche Zusammenleben der Menschheit, denn befreit vom beständigen Konkurrieren mit anderen Staaten »könnte der menschliche Organismus als das eigentlich Humane, vom Zwang der Organisation befreit, reiner hervortreten«. Und darum bräuchte ein solcher Weltstaat auch kein Militär mehr. Man muss aber den Begriff des »Humanen« bei Jünger mit Vorsicht genießen. »Human« ist bei dem alten Frontsoldaten nicht als »humanistisch« definiert. Sein Weltstaat wäre vermutlich eher eine Art Wilder Westen, bewohnt von Waldgängern.
Kapitalakkumulationsstopp vs. libertäre Selbstbestimmung
Macht die Nähe zu Ernst Jünger aus Ole Nymoen einen autoritär-libertären Denker, dessen linkes Vokabular sein persönliches Prenzlauer-Berg-Wohlfühl-Bällebad darstellt? Einerseits argumentiert er mit einem gewissen »Klassenbewusstsein«. Er fordert die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und dass nicht allein Märkte über die Verteilung der Produktion entscheiden dürfen. Er fordert die politische Begrenzung von Kapitalakkumulation. Als Ziel strebt er einen dezentralisierten, ökologisch grundierten demokratischen Sozialismus an. Mit »demokratisch« meint er eine Demokratie jenseits der Wahlrituale, die basisdemokratisch und deliberativ gestaltet ist.
Aber andererseits setzt er stark auf individuelle Entkopplung, auf Verweigerung und Distanz. Das deutet auf ein libertäres, unsolidarisches und egoistisches Selbstbestimmungsempfinden hin, das den Staat als Zwangsapparat versteht und individuelle Freiheit über kollektive Ziele stellt. In Talkshows und vor allem in den sozialen Medien argumentiert er oft zynisch und elitär. Allerdings wird ihm dort auch einiges um die Ohren gehauen. Aber das dürfte er gewohnt sein, denn die sozialen Medien sind ja sein eigentliches Zuhause. Nymoen ist vor allem ein Polit-Influencer, sowohl als Podcaster als auch als YouTuber. Mit dem linksintellektuellen Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt betreibt er den wirtschaftspolitischen Podcast »Wohlstand für alle« und mit Lensi Schmidt ein Projekt namens »Das gute Leben mit Lensi«. Dass er Influencer ist, wird Nymoen nicht gerne hören. In dem Buch »Influencer«, das er zusammen mit Wolfgang M. Schmitt veröffentlicht hat, heißt es: »Influencer sind eine ernst zu nehmende Gefahr, da sie antiaufklärerisch agieren und ihre Follower manipulieren.« Und eventuell war die Wehrpflichtdebatte vor allem gut für das Generieren von Aufmerksamkeit. Denn das ist es, was ein Influencer braucht.












