Es herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg ein aktueller Mangel an Juristen, die sich mit Kriegsverbrechen auskannten. Der amerikanische Präsident Harry S. Truman ließ daher Mitarbeiter für geplante Militärprozesse suchen. »Die Nürnberger Nachfolgeprozesse sollten die gesamte Bandbreite der deutschen Gesellschaft abdecken«, berichtet der Jurist Benjamin Ferencz in seinem Buch »Sag immer deine Wahrheit. Was mich 100 Jahre meines Lebens gelehrt haben«: »Wir hatten die Industriellen, welche die nötigen Mittel für Lager gestellt hatten, um sich so mit Arbeitssklaven zu versorgen, die Diplomaten, das Militär – bis zu den SS-Truppen, die für das Töten zuständig gewesen waren.« Ein fleißiger Ermittler fand eine Sammlung von Nazi-Berichten, so dick wie das New Yorker Telefonbuch. Diese Berichte von Einheiten namens »Einsatzgruppen«, also Mordkommandos der SS, waren aus der Gestapo-Zentrale in Berlin an vielleicht hundert Topleute der Nazis geschickt worden. Niemand anders als Ferencz, der sich als Universitätsassistent in Harvard mit Kriegsverbrechen beschäftigt hatte, konnte und wollte damals diese barbarischen Täter, die Menschen wie Ungeziefer behandelten, anklagen: »Und so kam es, dass der kleine Benny aus Transsilvanien zum Chefankläger des größten Mordprozesses der Menschheitsgeschichte wurde.« Mit 27 Jahren!
Gebildete Mörder
Benjamin Ferencz zeigt sich in seinem dünnen Buch fröhlich und äußerst aktiv in Bezug auf das Weltgeschehen, ständig gibt er Tipps für ein Leben, in dem man seine kreativen Projekte verwirklichen kann. Langsam, langsam und trotz Rückschlägen niemals aufgeben, zum Beispiel. Die Journalistin Nadia Khomami vom »Guardian« schrieb seine Ansagen und sein Leben auf. Weil er ja schon hundert Jahre alt ist, würde er nur 75 Liegestütze statt 100 machen, steht da, oder »Lass niemand sagen, er wolle für sein Land sterben. Das ist dämlich. Man sollte für sein Land leben.« In Nürnberg suchte Ferencz 22 Mörder aus den 3.000 Tätern der »Einsatzgruppen« aus. Er beschloss, keine einfachen Soldaten anzuklagen, sondern suchte die hochrangigsten und gebildetsten Männer aus. »Wer nicht mindestens einen Doktortitel hatte, fiel raus.« Es ging um den Mord an mehr als einer Million Menschen! »Ich erweiterte die Anklage um den Vorwurf des Genozids, weil ich den Mann kannte, der den Begriff geprägt hatte – ein polnischer Jurist namens Raphael Lemkin, der aus seiner Heimat floh, nachdem die Nazis seine gesamte Familie umgebracht hatten, und diese Geschichte allen, die ihm zuhörten, erzählte – wie der alte Seemann in der Ballade von Samuel Taylor Coleridge. Außerdem nahm ich Massenmord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in die Anklage auf.«
Nichts liegt im Blut
Diese Nazi-Angeklagten zeigten keinerlei Reue oder Gewissensbisse. Sie wollten alle »nicht schuldig« gewesen sein. Chefankläger Benjamin Ferencz ging beim Schreiben des Eröffnungsplädoyers auf, dass es nicht nur um Gerechtigkeit gehen konnte. Er vertrat diese tiefgehende Ansicht, die einen fatal an die ganze heutige »Bevölkerungsaustausch«-Propaganda nicht nur der Identitären erinnert: »Wenn man daran glaubt, dass eine andere Gruppe eine Bedrohung darstellt, weil es ihr im Blut liegt, die eigene Gruppe zu töten – wie es die Überzeugung der Nazis in Bezug auf die Juden war – ist es ganz logisch, deren Vernichtung anzustreben. Doch es handelt sich um eine unmenschliche Überlegung und eine falsche Argumentation, weil so etwas niemandem im Blut liegt.« Der Hauptangeklagte, SS-General Dr. Otto Ohlendorf, rechtfertigte seine Taten, das Ermorden von 70.000 bis 90.000 Juden, als Selbstverteidigung! »Aber Deutschland wurde von niemandem angegriffen«, antwortete man ihm. »Das Land hat Frankreich, Belgien, Holland und Dänemark selbst angegriffen.« »Ja«, meinte Ohlendorf, »aber Hitler wusste etwas und er verfügte über mehr Informationen als ich. Die Bolschewiken wollten uns angreifen, deshalb beschlossen wir, den ersten Schlag auszuführen. Es war ein legaler Präventivschlag.« Ohlendorf wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. »Jedes Mal, wenn ich dieses Urteil hörte, kam es mir vor, als habe jemand einen Hammer auf mein Gehirn niedergehen lassen«, schreibt Ferencz. »Ich hatte nie ein Todesurteil gefordert, weil ich befürchtete, das könne das Ausmaß der Verbrechen bagatellisieren, weil es nahelegte, diese ließen sich durch die Hinrichtung einiger weniger ausgleichen.«
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