Sofort erzeugt die ständige Wiederholung der Tonfolge eine enorme Spannung. Nach kurzer Zeit wird sie immer präsenter und scheint immer näher zu kommen, bis sie die Köpfe der Anwesenden umkreist wie ein Schwarm Bienen. Nur, um kurz darauf wieder im Hintergrund zu verschwinden. Währenddessen passiert etwas, wozu nur wenig Musik in der Lage ist. Denn langsam verändert sich auch die Luft im Raum. Sie ist viel schwerer als noch zuvor, der Sound hat das Kohlendioxid wie einen Schwamm aufgesogen und mit neuen Molekülen angereichert. Nennen wir sie Shackleton-Moleküle.
Es vergehen viele Minuten, bis man merkt, dass immer noch kein Beat zu hören ist. Doch selbst die letzten verzweifelt dreinblickenden Leute sind jetzt überzeugt: Die nicht eingelöste Erwartung ist kein Mittel, sondern das tragende Element der Musik. So dauert es nicht lange, bis sich der Sound in den Gehörgängen der Anwesenden von einem ratlosen Fragezeichen zu einem entschlossenen Ausrufezeichen verwandelt. Körper geraten in Bewegung und synchronisieren sich mit einem Beat. Auch wenn dieser eigentlich gar nicht da ist.
Ein tiefes Grollen schleicht sich unter das Vibraphon, verschlingt es fast schon. Die Musik erzeugt einen Fluss, den die Minimal Music-Pioniere wie Steve Reich schon in den 1960ern zu erreichen versuchten, indem sie die radikale Repetition von kurzen Motiven bei gleichzeitiger Variation anstrebten. Shackleton ergänzt dieses Prinzip mit Einflüssen aus westafrikanischer Trommelmusik, die er stets mit dem jamaikanisch-britischen Dub-Gen kreuzt, ohne dabei die westeuropäische Techno-Kultur zu vergessen. Ein Beat ist immer noch nicht zu hören. Und dennoch sind alle hier in Bewegung.
Trance. Doch keine, wie man sie von Clubnächten kennt. Es ist keine Beat-raus-Melodie-rein-Hände-hoch-und-wieder-Beat-rein-Trance. Nein, es ist vielmehr eine wirklichere, eine Ich-bin-gerade-an-einem-anderen-besseren-wenn-auch-bedrohlichen-Ort-Trance.
»Death is not final, die before you die« wiederholt die Stimme von Vengeance Tenfold die Shackleton per Mischpult aus den Tiefen seines Gesamtwerks empor holt. Die Worte wirken wie ein Katapult, das einen kurzzeitig in die Welt zurück wirft. Das geschieht jedoch nicht ganz. Vielmehr steht man immer noch mit einem Fuß im Jenseits, im musikalischen Paralleluniversum, während der andere nur kurzzeitig dorthin zurückgezogen wurde, was man allgemein als Realität bezeichnet.
Und so wird man sich in einem Moment der Ekstase plötzlich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst.
Die Bewusstseinsmaschine ist aktiver als zuvor, auch wenn ein ständiges Umschalten zwischen unbewussten und bewussten Handeln stattfindet. Es ist ein Zustand des Dazwischen, in dem sich sowohl das eigene Selbst, als auch die Musik befindet. Die Anwesenheit der Abwesenheit. Trotz seiner Abwesenheit ist der Beat stets präsent, denn er bewegt sich in einem in den Zwischenräumen.
Nicht umsonst stammt der heutige Wahl-Berliner aus dem Umfeld des frühen Dubstep, in der das musikalische Experimentieren noch ein Grundprinzip war. Es war eine Zeit, in welcher der Stil noch kein Stil war, sondern nur eine musikalische Vision, welche den Staub auf den Tanzflächen der Clubs aufwirbelte.
Genau das passiert jetzt im Club. Unregelmäßige Bassdrum-Schläge bringen unvermittelt meine Magengrube in Wallung. Tribalistische Percussions setzen ein und werden begleitet von durchdringenden Subbässen, die kurzzeitig mein Gleichgewichtsorgan verwirren.
Shackleton scheint zu wissen, dass sich letzteres im Zentrum des Innenohrs befindet. Spätestens jetzt hat er die Leute fest in seinem psychologischen Griff. Denn die Kunst des Briten liegt auch darin, den Hörer kreativ und aktiv an der Musik teilhaben zu lassen. Doch es dauert nicht lange, bis auch der letzte Bewusstseinsanker herausgerissen wird. Sobald der gefühlte fünfte Drop einsetzt, bei dem treibende Tablas eine weitere rhythmische Ebene hinzufügen, tritt das ein, worauf man trotzdem die ganze Zeit gewartet hat: Die akustische ?berwältigung. Spätestens jetzt bestehen wir nur noch aus Fleisch, Wasser und Knochen. Da letztere innen hohl sind, wird unser Körper zum perfekten Resonanzkörper. Und die Luft als Medium dieser außerweltlichen Musik, hat ihre Konsistenz wieder etwas verändert.
Dieser Text wurde zuerst auf dem Blog ntropy.de veröffentlicht.