Als Kinder lernen und übernehmen wir die Sprache unserer Eltern, ohne genau zu durchschauen, woher welche Ausdrücke kommen. Ihre Ausdrucksweise, Werte und innere Bilder nehmen wir mit. Später können und sollten wir diese aber reflektieren und einen »sinnkonformen Wortschatz« entwickeln. »Viel Vokabular hat mit dem Krieg zu tun«, erläutert die Sprachwissenschaftlerin und Autorin (»Die Kraft der Sprache. 80 Karten für den alltäglichen Sprachgebrauch«; »Ein lautes Ja zum Leben sagen, zufrieden werden mit bewusster Sprache«) Mechthild von Scheurl-Defersdorf auf dem virtuellen Kriegsenkel-Kongress im Interview unter dem Titel »Die heilsame Kraft der Sprache«. Es gibt in der deutschen Sprache Häufungen, die mit der Geschichte zu tun haben. »Die Großeltern sind aus Pommern, Schlesien oder Krakau geflohen. Dieses Geschehen ist immer in der Sprache dabei.« Beispiel: »Hör auf, mich zu drängeln, wir sind ja nicht auf der Flucht!«
Seelische Trümmer
Scheurl-Defersdorf bringt ein paar eindrückliche, sehr genaue Beispiele aus ihrer Arbeit, um ihre Theorie zu erläutern: Eine Frau sagte z. B. mehrmals über ihren Sohn, er sei »zwanghaft zerstreut«, statt er sei »in Gedanken woanders« o. ä. Es kam dann im Laufe der Gespräche heraus, dass auf dem Flüchtlingstreck Mutter und Großmutter der Frau »zwanghaft zerstreut« wurden – die eine musste nach Norden weiterziehen, die andere nach Westen. »Die beiden zwanghaft getrennten Frauen haben sich den ganzen Krieg nicht mehr gesehen.« Sie riet der Frau, mit ihrem »schusseligen« Sohn nach Pommern zu fahren. Ein Onkel, der die Flucht miterlebt hatte, solle dem Sohn von seiner Heimat erzählen und mit ihm das Erlebte besprechen. Oft ginge es um »seelische Trümmer«, die man wegräumen sollte.
Bei manchen Erklärungen kriegt man eine vage Ahnung: »Wir sollten aufhören mit dem Keine-Ahnung-Haben. Besser ist: ›Das weiß ich im Moment nicht.‹ Dieses ständige »Ich habe keine Ahnung« bedeute nämlich, man habe keine Verbindung zu seinen eigenen Ahnen und es wäre ja nicht schlecht, die herzustellen und eine Verbindung mit den Generationen in die Vergangenheit hinein herzustellen, sich in Zeit und Raum zu verorten.
Friede in der Sprache
Passen die Wörter, die wir verwenden, zu dem, was wir meinen? Scheurl-Defersdorf arbeitet mit Angestellten von Firmen. »Ich ertrinke in Arbeit«, sagte eine Frau z. B. statt »Momentan sehe ich mich kaum heraus aus der Arbeit« o. ä. Da es in der Oberpfalz keine Seen gäbe, fragte die Sprachforscherin genau nach. Heraus kam, dass der Onkel der Frau auf dem Rückzug als Soldat ertrunken war. »Schicksalsbilder werden verwendet«, meint die Forscherin. Zumeist unbewusst und ohne Zusammenhang. Schlachtfeld, Papierkrieg, Bombenwetter, Granaten, Deadline – sogar die in Österreich unbekannte Wendung »Ach, schlag’ mich tot«!
»Ich wünsche mir Frieden in der Sprache. Zu-frieden-heit. Man sollte die Sprache und die dahinterliegenden Ereignisse sozusagen aufräumen«, meint Scheurl-Defersdorf. »Es ist an der Zeit, die Sprache zu bereinigen und Redewendungen hinter sich zu lassen, die das Schicksal der Kriegsbetroffenen in der Sprache spiegeln und damit weiterführen. Ich wünsche mir eine friedvolle Sprache.«
In der Sprache des Dritten Reiches wäre es z. B. verpönt gewesen, das Wort »ich« zu verwenden, denn »Ich-Sagen macht Menschen stark. Es macht sie sichtbar und präsent.« Man kann üben: Statt »Ich habe ein Attentat auf dich vor« z. B. »Ich habe eine Bitte an dich«. Klingt doch ganz anders. Täter*innen- bzw. Akteur*innen-Benennung würde ebenfalls helfen: Statt »Ich wurde entlassen« eben »Der Chef hat mich entlassen«. Statt dem Passivsatz »Sie wurden vertrieben« der Aktivsatz »Die Russen haben meine Großeltern vertrieben« oder »Die Deutschen haben die russische Bevölkerung vertrieben«. Täter*innen benennen!
Links:
www.lingva-eterna.de
https://www.kriegsenkel-kongress.de