Kompositionstechniken, die retrograde Bewegungen beinhalten, kommen in der Musik des Mittelalters und der Renaissance genauso vor wie in den unterschiedlichen Musikrichtungen der Moderne. Der Lautenist und Electroexperimentalist Jozef van Wissem nahm sich des Prinzips der retrograden Kompositionstechnik auf der vorliegenden CD auf interessante, wenn auch brachiale Art und Weise, an. Während üblicherweise dem Cantus Firmus eine rückläufige Bewegung angepasst wurde, stellt van Wissem hier gleich ganze Stücke von Renaissance-Komponisten wie Elias Mertel oder Jacob Reys auf den Kopf. Er spielt sie von hinten nach vorne, dekonstruiert die Stücke, indem er am Ende des Notenblattes zu spielen beginnt und sich dann langsam zum Beginn des jeweiligen Stückes vorspielt. Auf diese Art entstanden Bearbeitungen von Stücken aus der Zeit zwischen 1550 und 1640. Erwähnenswert scheint mir noch, daß Jozef van Wissem bei seinen Live-Auftritten mit dem retrograden Lautenmusikprogramm stets Video-Projektionen mit Hitler-Jugend-Filmausschnitten zeigt. Laut van Wissem setzte die HJ die erste große Retrowelle der Musikgeschichte in Gang. Lautenmusik aus der Renaissance soll damals ziemlich »in« gewesen sein. Da lässt sich doch vortrefflich über Funktion von Retrowellen und dem Bedürfnis danach sinnieren. Interessant!
Jozef van Wissem
Retrograde Rennaissance Lute - A Classical Deconstruction
Knitting Factory Records
Text
Jürgen Berlakovich
Veröffentlichung
30.09.2000
Schlagwörter
44
Jozef van Wissem
Knitting Factory Records
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