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Raum, Wunsch, Rhythmus

Das britische Duo Raime lotet seit 2010 auf dem Label Blackest Ever Black die Ränder von Techno und Industrial aus. Joe Andrews und Tom Halstead im Interview mit skug.

Foto: Martina Nowak

skug: Kürzlich bin ich über ein Album von CON [alias Conrad Schnitzler, Anm. d. Red.] gestolpert und musste sofort an euer Album denken. Als ich es mir später nochmals in Ruhe angehört habe, ist mir auch eine große Nähe zu Gerald Donald von Drexciya/ Dopplereffekt aufgefallen, vor allem was seine Sounds und Texturen betrifft. Meint ihr, diese Assoziationen waren Zufall, oder seht ihr eine Verbindung zwischen euch, Berlin und Detroit?

Joe Andrews: Zu Schnitzler persönlich sehe ich keine direkte Verbindung. Allerdings gibt es auf jeden Fall einen Bezug zu experimenteller elektronischer Musik aus Europa der letzten dreißig oder vierzig Jahre. Wir gehören, wenn man so will, zur selben Familie.

Und was ist mit Detroit und Drexciya?

J. A.: Detroit hat für uns sicherlich immer eine große Rolle gespielt. Es war vielleicht das erste Mal, dass wir uns für eine Spielart der elektronischen Musik interessiert haben, die auch eine Ideologie hatte. Da war sicher auch ein gewisser Romantizismus dabei, eine weltliche Idee. Das hat uns sehr geprägt. Ich fühle mich heute noch immer diesen Konzepten verbunden, nicht zuletzt in der Art, wie das über bloße Clubmusik hinausgeht.

Wenn ich das richtig verstanden habe, interessiert euch – neben Ideologie – besonders das Rohe in der Musik. Ich glaube, ihr seid große Fans von Old School Jungle …

J. A.: Yeah!

Verfolgt ihr auch Grime?

J. A.: Auf jeden Fall!

Was macht ihr, um diese Rohheit in euren eigenen Produktionen zu erreichen?

J. A.: Rohheit ist nur ein Aspekt unserer Arbeit. Es geht vielmehr darum, eine Balance zwischen den rohen und den ausgefeilteren Teilen der Produktion zu finden. Fast alle Sounds, die man auf dem Album findet, stammen von Studioaufnahmen. Das Rohe und das Zufällige kommen direkt aus diesen Aufnahmen. Diese sind zwischen zehn und vierzig Minuten lang, und wir wählen vielleicht zwei Sekunden von der einen Stelle aus oder fünf von einer anderen. Die Teile werden dann geschichtet, geloopt und geformt. Am Ende ist dieser Prozess sehr spezifisch und maßvoll, hat also gar nichts Rohes mehr an sich. Aber der Ursprung des Sounds ist in der Tat roh.
Tom Halstead: Das Rohe kommt aus dem expressionistischen Teil dieser Performances. Dann wählen wir einzelne Teile aus, welche die Emotion der gesamten Aufnahme als Essenz enthalten – den kleinsten Anteil, für den wir diesen ganzen Aufwand betreiben.

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Finden diese Sessions meist in eurem Studio statt oder geht ihr für eure Aufnahmen auch woandershin?

J. A.: Für die Aufnahmen mit dem Cellisten und dem Schlagzeuger haben wir uns ein Studio gemietet, um sie mit einem großen Mischpult aufnehmen zu können. Aber alle Sounds von Gitarre und Bass machen wir in unserem Studio. Die Rohheit von Jungle und Grime kam von der Geschwindigkeit, mit der die Musiker arbeiteten, aber auch von den verwendeten Technologien. Die Sampler, mit denen anfangs oft gearbeitet wurde, waren meist günstig und mit entsprechend niedrigen Bit-Raten. Daher war der Sound, der herauskam, ruff and ready, also irgendwie stumpf und grobklotzig. Auch das Sequencing war sehr ruff. Die Orte, an denen dieser Sound gespielt wurde, waren ebenfalls wichtig; die rohe Energie von Grime und Jungle kam immer aus den Underground-Clubs. Wir hingegen haben dieses Umfeld nicht – wir kommen weder aus dem Club, noch drücken wir uns darüber aus. Trotzdem hat die Musik, die von dort kommt, unseren Sound stark beeinflusst. Es ist allerdings nur ein Teil davon.

Seid ihr in London aufgewachsen?

J. A.: In Reading, also etwas außerhalb Londons.

Seid ihr damals viel in Jungle-Clubs gegangen?

J. A.: Hm, schon ein wenig, wobei leider …
T. H.: Wir waren zu jung!
J. A.: Wir waren damals noch zu jung, um unsere Lieblingszeit von Jungle miterleben zu können. 1996 ist für uns gewöhnlich der »Cut-Off« für Produktionen, die wir mögen. Ab 1998 gingen wir zwar auf Partys, aber da war der Sound bereits härter, es gab vor allem Tekstep und Jump-Up. Ich denke, dass uns kaum etwas von diesem Zeug so beeinflusst hat wie der Sound, für den wir eigentlich zu jung waren. Eigentlich war ich fast immer zu jung für die Musik, die ich mag! [lacht] Industrial, Postpunk, Detroit … – und wir sind ja in Reading aufgewachsen! Daher haben wir diese Dinge immer erlebt, indem wir die Platten abgespielt haben. In unserer Jugend gingen wir zwar viel auf House- und Techno-Partys. Diese Musik haben wir im Club erlebt und viel Zeit damit verbracht. Aber Postpunk, Avantgarde, Industrial und auch viel Jungle kennen wir vor allem von den Platten. Für uns ist das trotzdem eine sehr emotionale Angelegenheit, denn wenn man so eine Platte auflegt, dann muss man sich das ganze Drumherum selbst vorstellen.
T. H.: Genau, die Vorstellungskraft …, die Möglichkeit … und woher das alles kam!
J. A.: Man kann dabei beinahe romanisch werden, denn anstatt die Musik in dem Moment zu erleben, in dem man sie hört, ist auf der Platte alles so weit weg.

Könnt ihr euch an einen besonderen Moment im Club erinnern?

T. H.: Als die meisten Sachen passierten, waren wir, wie gesagt, einfach zu jung. Vielleicht fühlen sich heute die frühen DMZ-Nächte im Brixton Mass ein wenig an wie »Oh, wir waren dabei als diese Dubstep-Sache begann«.
J. A.: Wenn ich so nachdenke, früher, da war Jeff Mills möglicherweise auch einer dieser Momente. Da gab es eine ganz bestimmte Performance, wo er einen Soundtrack zu »Metropolis« machte und danach einige Platten spielte. Zu dieser Zeit begann ich gerade, mich für Detroit zu interessieren. Für mich war neu, dass das alles mehr mit Kunst als mit Club zu tun hatte.

Ist das auch eine Richtung, in die ihr euch mit eurer Arbeit bewegen wollt, also das Club-Setting zu verlassen?

J. A.: Eigentlich definieren wir uns schon längst nicht mehr über Clubs. Meistens spielen wir in Kunsträumen oder auf Festivals; in Clubs eigentlich nur selten. Wir bemühen uns auch nicht wirklich darum. Das ist aber auch eine ganz normale Entwicklung, denn wir gehen auch nicht mehr so viel aus wie früher.
T. H.: Und dann sind da noch die technischen Einschränkungen – wir mögen einfach eine physikalische Performance.
J. A.: Wobei es nicht nur um den Raum und einen Wunsch geht, sondern vor allem auch um Rhythmus. Im Club braucht man immer einen gleichmäßigen Rhythmus. Genau darum geht es ja im Club – acht Stunden rhythmische Tanzmusik, zu der man sich bewegt. Und für uns ist der Rhythmus etwas, das wir manchmal mögen und manchmal nicht. Das kann man auch in unseren Stücken hören:  manchmal steht der Rhythmus im Zentrum, dann ist er wiederum zwar auch da, aber nicht komplett ausformuliert.

Hat das Rauchverbot die Clubs verändert?

J. A.: Ich glaube nicht, dass das Rauchverbot Auswirkungen auf die Energie hat, die man in einem Club erzeugen kann. Das einzige, was sich verändert, ist die Art, wie sich die Menschen im Club bewegen. Man hat nun immer sehr viele Leute vor dem Club, während sich die kleinere Menge von Leuten im Club stark auf die Atmosphäre im Raum auswirkt. Mir geht es manchmal ab, in einen Club zu gehen und dort auch rauchen zu können, obwohl mich das ja mittlerweile kaum mehr betrifft.

 

Ich möchte kurz noch einmal auf eure Produktionsumstände zu sprechen kommen. In einem Interview mit »The Guardian« beschreibt ihr euch als »fastidious« [sehr penibel, Anm. d. Red.] und erwähnt auch Schlafentzug, der sich nicht zuletzt aus der Verbindung mit euren Jobs und der Musikproduktion ergibt. Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, wie ihr als Team arbeitet. Habt ihr einzelne Bereiche, die vorwiegend einer von euch übernimmt oder macht ihr beide alle Arbeiten. Wie organisiert ihr euch innerhalb des Projekts?

J. A.: Zu Beginn hatten wir relative getrennte Rollen. Mittlerweile scheint es mir …
T. H.: … austauschbar.
J. A.: Es fühlt sich sehr vertraut an. Wir arbeiten zwar auch an bestimmten Sachen alleine, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Das sind dann eher so kleine Ideen …
T. H.: Wir treffen uns im Studio und sagen: »Ich habe gerade das hier gemacht, was hältst du davon?« Dann versucht man daraus eine Platte zu machen. Oder aber man erreicht einen Punkt, an dem man merkt, dass die Idee nicht mehr funktioniert und man verwirft sie wieder. Es ist wichtig, gewisse Ideen alleine zu entwickeln, sie aber dann mit jemandem zu teilen und sie gemeinsam auszuformulieren.
J. A.: Dabei geht es immer um einen Prozess zwischen uns. Gewisse Entscheidungen werden einfach besser, wenn sie gemeinsam getroffen werden.
T. H.: Im letzten Jahr war unsere Zeit recht begrenzt, weil wir beide Vollzeit arbeiteten. Es ist schwierig, an einem gemeinsamen Stück weiterzuarbeiten, wenn man sich nicht zusammen im selben Raum aufhält. Wir versuchen gerade, dies zu verändern.

Wie ist das Verhältnis zu eurem Label Blackest Ever Black?

J. A.: Es ist ein absolutes Vertrauensverhältnis. Wir kannten Kiren [Sande], der das Label betreibt, bereits davor. Unsere erste Platte haben wir dann gemeinsam mit ihm gemacht, und das war zugleich auch der erste Release auf seinem Label. Wir haben alles zusammen begonnen und sind gemeinsam gewachsen.
T. H.: Es war wirklich ein sehr organischer Prozess, in dem wir uns gegenseitig unterstützt haben.
J. A.: Wir haben uns gegenseitig auch sehr stark beeinflusst.
T. H.: Kiran ist einfach eine Person mehr, die an der Diskussion teilnimmt. Wenn wir eine Idee haben, dann gehen wir damit zu ihm. Wir schätzen seine Meinung sehr. Falls er findet, dass sei nicht das Richtige für das Label, dann akzeptieren wir das.
J. A.: Der einzige Weg, uns zu kontaktieren, ist über Kiran, denn wir haben keine Kontaktadressen. Er war von Anfang ein absolut integrer Teil unseres Projekts.

Welche Pläne habt ihr für die Zukunft?

J. A.: Wir werden versuchen, mehr Musik zu machen!
T. H.: Als das Album letztes Jahr erschienen ist, hatten wir in der Folge eine recht anstrengende Zeit. Die vielen Auftritte sind natürlich großartig, aber langsam sollten wir es wieder ruhiger angehen und an neuem Material arbeiten.
J. A.: Genau, zurück ins Studio!

 

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Text
Chris Sperl

Veröffentlichung
21.11.2013

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