Pictures, coming to eat you
Was zählt ist das Bild und die Bewegung. Nichts anderes. Eigentlich das Rückführen von Handlung auf ihr grundlegendstes Selbst, den Fick, den Faustschlag, den Freakout. Rock’n’Roll. Aber eben nicht unbedingt in den feinverschnittenen Extrawurstscheiben des pseudojugendlichen Prime Time-Programms, das frisch »authentische« Pickelfressen im Snowboard-View durch CGI-gestützte Schnittmassaker katapultiert. Dieser Rock’n’Roll kann sich in drei bis fünf Minuten langen Einstellungen zur wohlverdienten Ewigkeit ziehen. Voll Bresson, Alter! Denn es zählt nur die Intensität. Und die ist im gegenwärtigen asiatischen Kino gegeben wie nirgends sonst wo. Die Wiedergeburt der Action aus dem Geiste der Popkultur. Kinji Fukasaku. John Woo. Sogo Ishii. Shinya Tsukamoto. Takeshi »Beat« Kitano. Takashi Miike. Kim Ki-Duk. Leuchtende Autorennamen aus Japan, Korea, Hongkong, die die Wände zwischen Kunst und Kommerz, mit Tabubrüchen, Tragikomödien aus Blut, Metall und Sperma, mit einem Overkill an Sinneseindrücken niedergerissen haben. Und nicht zuletzt einigen Meisterwerken, die der Filmgeschichte den Restart-Knopf betätigen. Da rennen Beziehungskisten Amok, rammen Angelhaken durch Geschlechtsteile (»The Isle«), lassen eine Hausfrau und Mutter inmitten einer Familienpieta von Tochtervögeln bis zur Nekrophilie ihre Naturmilch gleich meterweit zielschießen (»Visitor Q«).
Das so genannte gewöhnliche Leben wird ein kafkaesker Abknallparcours (»Monday«) , während zeitgleich die Bilder aus der bluttriefenden wie gnadenlosen Welt der Yakuza und Triaden zu den zärtlichsten Personenstudien mutieren (»Sonatine, »Graveyard of Honor«). Als ob erst in der entblößten Ahnung des absolut letzten denkbaren sozialen Endes eine zen-hafte Ruhe in den Menschen einkehren kann. Kino, das dich durch die Übertreibung hindurch im Bildexzess erdet. Der pure nicht-eskapistische Mindfuck. Eine Kunst, die der europäische wie amerikanische Film vollends verlernt hat. Keanu Reeves hatte mehr als recht, als er nervös in den multimedialen PressKit-Sessions zu Matrix 2 bis 3 davon stammelte, der Haudrauf wäre die ganze Story. Was aber eben auf Matrix nicht zutrifft, den teuer wie industriell auffrisierten Cyberpunk-AsiaAction-Klau, versucht man doch die hübsch pumpenden Bildgewitter in möglichst gut vermarktbare Pseudo-Mythologien zu verpacken – das nach dem westlichem Zwangsduktus, Bedeutung wie Erklärung im Moment der öffentlichen Ekstase, die Action ja immer mit ist, KLAR und DEUTLICH mitliefern zu müssen. Das tatsächliche asiatische Kino wirkt im Gegensatz so befreiend, weil es Intellekt und Körperlichkeit nie trennt. Eine Straßenschlägerei in Zeitlupe als Mikrokosmos der Welttragödie, kopfschwer wie Dostojewskij. Eine MG-Ladung als Richtmaß des Universums, kalt berechenbar wie eine Kantsche Kategorie. Lesarten, die immer sein können, nicht müssen. Am offensichtlichsten wurde es mit »Bullet In The Head«, dem schwer politisierten Shootout-Epos von den zwei wichtigsten Knallmaestros der großen Hongkong-Blüte, John Woo und Tsui Hark. Doch im Flirren fliegender Körper, klirrender Wurfschwerter, rauchender Mündungen im Katzensprung spiegelte sich ein Panoptikum des Weltgeschehens.
Sting Of Da Real Thing
Wie alles was schwer erklärbar, aber reizvoll war, wurde der Hongkong-Style von Hollywood einfach aufgekauft, und im unverständigen Transfer tot gemurkst. Japan, Korea, Taiwan, sogar Indien, nehmen inzwischen die östliche Spitzenreiterrolle ein, während die damaligen Größen wie Woo oder Ringo Lam nichts als Genre-Dreck wie deren klaufreudige US-Kollegen fabrizieren. Kein Matrix ohne Tsukamotos »Tetsuo« oder Ching Siu Tung’s Luftkampf-Choreographien. Kein »Terminator 3« ohne Manga und Akira. Nicht einmal ein Thriller-Schmus wie Mark Romaneks »One Hour Photo« ohne die psychologisierende Zeitzerdehnung eines Kitano. Tarantino sei Dank, rennt die Kommerzmaschine wenigstens gelegentlich ehrlich und gibt auch die Einflüsse preis, so wie Lucy Liu sich gerade präzis im Mythos der »Lady Snowblood« (1973) kleidet und Uma Thurman in den Pop-Artefakten von Female Convict Scorpion bis Bruce Lee wühlt, Quentin »Kill Bill« gleich direkt Fukasaku, dem Meister des vertrackten Hip-Crimes, der Pulp Fiction schon überdeutlich vorzeichnete, widmet. Wunderschön, cash-getunet und nicht wenig luftleer. Was auch den generellen Remake-Wahnsinn vom japanischen Geisterfilm wie Nakatos »Ring« und »Dark Water« über den wunderschönen Neo-Noir »Kaos«, koreanische Drollkömodeien bis zum Samurai-Gassenhauser betrifft. Bei letzterem bestehen immerhin Chancen, legt doch Darren »Pi« Aronovsky Hand an »Lone Wolf And Cub«, das japanische Legendenserial um den Killer mit dem Babywagen. Doch auch im Fall eines Box Office-Sprengers verödet das Original bestenfalls wie »The Ring« in der zweiten Reihe im Videoverkauf. Die beste Adresse, dass das nicht guten Gewissens so passiert, ist Rapid Eye Movies, von den drei Enthusiasten Stefan Holl, Antoinette Köster und Sigrid Lamprecht 1997 ins Leben gerufenes Label, um den asiatischen Film oder auch den Bildbegriff rundherum unverschnitten auf die deutschen Leinwände zu katapultieren. Nach einer Vorgeschichte als Wanderfilmfestival, »Hongkong in Action«, das die lange wie großartig vom Filmjournalisten Andreas Ungerböck in Wien organisierten Asien-Wochen mit übernahm, startete man mit dem Kinoeinsatz der Niederkniewerke »The Killer« und »Ghost In The Shell«, John Woos Gangsta Style Meisterwerk und Mamoru Oshiis Cyber-Anime-Meilenstein, demnächst auch als Realfilm erhältlich. »Das waren die ersten Aktivitäten hier, sich in Europa in so einer gebündelten Form mit Hongkong-Kino auseinander zu setzen.«, so Holl im Direktinterview. »Parallelimporte und DVDs gab es ja damals noch nicht und es war die einzige Chance diese Schätze auch auf einer Leinwand zu sehen. Dem Kinogedanken werden wir immer verpflichtet sein. Wir gehen ja nicht nur nach Herkunftsland, also jetzt rein Japan oder China nach Deutschland zu bringen. Das ist alles vor allem eine formale Entscheidung. Es ist generell so, dass das asiatische Kino stark in Bildern erzählt, sehr oft mit wenigen Worten starke eindringliche Geschichten transportiert, die weit über das hinausgehen, was man aus dem europäischen oder US-Kino kennt. Sachen, wo das Kino ein bisschen an die Grenzen gerät, wo man als Seher gefordert wird. Was aber auch für Roy Anderssons »Songs From The Second Floor« gilt, der zwar schwedisch ist, aber formal absolut herausragt und auch einen unglaublich tollen Balanceakt von Kunst, Humor und einer einzigartigen Geschichte hinbringt. Es muss nicht immer Asien sein.«
Swingflix: Der musiksozialisierte Blick
Einen der wesentlichsten Beiträge für die Durchsetzung einer neuen musikalisierten Bildsprache hat REM freilich durch den Kinostart der Clip Cult-Compilation geschaffen, die erste als Kunstwerk auftretende Sammlung der wichtigsten Musikvideomeilensteine von Chris Cunningham’s Hirnverzerrungen rundum Aphex Twin bis zu Spike Jonzes DV-Exzessen neben Festivals wie Rotterdam oder dem RES Fest. »Da hat es mit uns tatsächlich so was wie eine Keimkristallisation gegeben, es erzeugte sich eine große Auseinandersetzung. Das Experiment haben sicher so 15-20.000 Leute mitgemacht. Die Videos kannte man wohl zum Teil vorher, in der Form freilich hatte sie noch niemand gesehen oder es erlebt, die so zu rezipieren. Was wiederum dazu geführt hat, das Genre in künstlerischen Belangen zu etablieren. Es hat uns auch umgehauen. Wir kannten ja grad die Sachen von Chris Cunningham vereinzelt als Fans. Es gab dann auch leider keine Volume 2, obwohl noch eine Compilation angekündigt war, weil die Qualitätslatte so hoch lag, das wir genau nichts gefunden haben, um einen würdigen Nachfolger zu etablieren.« Mit den jüngsten Aquisitionen, der SciFi-Porno-gefärbten Techno-Wandtapete »I.K.U.« von der berühmten Digi-In
stallationskünstlerin Shu Lea Chang, einer handlungsfrei berauschende Phantasie in den Trümmern von »Blade Runner« und dem Doomsday-Pemperwerk »Café Flesh«, sowie dem von Captain Future-Veteran Leiji Matsumoto und Daft Punk inszenierten Futuroschmalzmusical »Interstella 5555«, in pastellfarbenen Zeichentricktönen, geht man den Weg retour in Richtung spielfilmlangen MuVi. »Weiterdenken von Popkultur? Ja vielleicht. Interstella oder noch früher Sogo Ishii’s Electric Dragon 80.000 Volt sind ja Filme mit besonders starker Musik-Seele. Seit Clip Cult reizt uns dieses Element natürlich ganz groß und solche Experimente, die diese Filme ja immer sind, wo Musik und Film eine ganz eigene Symbiose eingehen, die dann auch noch zu erzählen hat, das ist das Ideale. IKU hat vielleicht nicht wirklich was zu erzählen, aber er schafft interessante Varianten eines, na ja, hinreichend bekannten Themas. Und ist gerade an der Oberfläche extrem spannend. Das ist so ein Eyecandy. Sexy und völlig harmlos. Den als klassische Erzählung von A bis Z anzuschauen, hab ich einmal gemacht, und das reicht. Ich fand das aber großartig, wie er sich genau zwischen die Stühle setzt. Der ist weder Kunst noch Porno. Kein reines Genreprodukt, sondern ein Hybrid, wo man sich auch mit der Beschreibung schwer tut. Eine taiwanesische Regisseurin, die eigentlich im Museum of Modern Art Videokunst ausstellt, macht einen schlüpfrigen Sex-Film. Das ist spannend. Das ist vielleicht das System Rapid Eye Movies. Die Schnittstellen aufzuspüren. Audition ist ja auch kein einfacher Horrorfilm, sondern eine ganz komplexe Abarbeitung von Phantasien und Genreregeln.«
REM’s Top Ten
»The Audition« (J 1999, Miike): In der Ruhe liegt das Grauen. DER größte sexy wie verstörende Horrorthriller für den inneren Machismo seit Ms.45. Kiri Kiri Kiri!
»Electric Dragon 80,000 V« (J 2001, Ishii) Tetsuo goes Garagenpunk. Fast Forward-Cyberpunk-Speed’n’Rock-Ekstase in knallhartem Schwarzweiß. Thunder be with you! |
»Ghost In The Shell« (J 1995, Mamoru Oshii) Matrix unwrapped. Die schöne Wahrheit hinter einem traurigen Kassenschlager. Zeitlose Anime-Schönheit in Blech und Rosachrom.
»Graveyard Of Honour« (J 2002, Mikke) Atemberaubend rohe Neufassung vom Fukasaku-Klassiker. Ganz weit weg vom Splattercomic »Fudoh«. Fatalismus X-Large. |
»I.K.U.« (J 2000, Shu Lea Chang) Androide Ficksurrogate auf Playstation-Mission durch ein blendendes Megalopolis. Computeranimierte Vagina-Shots aus Hochkulturhand. Groß.
»The Isle« (Korea 2000, Di-Kuk) Regiewunder Kim Di-Kuks Etablierungswerk. Sexualparanoia in Fischersiedlung zwischen »Betty Blue« und Pasolini. To be watched!
»Jin-Roh« (J 1998, Hiroyuki Okiura) Der großartigste Manga-Wälzer seit Akira. Bedient sich gleichermaßen an »Alice im Wunderland« wie Von Trier’s »Europa«. Tanz in den Trümmern!
»Okami 1-6« (J 1972-74, Misumi) Alias »Lone Wolf and Cub« alias »Shogun Assassin«. Verstoßener Samurai räumt mit Babywagen Japan auf. Bestes Actionserial aller Zeiten
»Sometimes Happy, Sometimes Sad« (Indien 2001,) Who the Hölle is Panjabi MC? Bollywood-typisches Megamusical, diesmal nicht als Schlachtengemälde oder Melodram.
»Visitor Q« (J 2001, Miike) DV R(E)volution in Full Effect. Familienzerlegung Marke Heimvideo. Johnboy wird nie wieder schlafen. Miikes größtes Meisterwerk.
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Die in »Clip Cult« vertretenen Musikvideos gibt’s demnächst via Labels/Virgin/EMI als DVD-Editionen von Chris Cunningham, Michael Gondry, Spike Jonze. Mehr dazu im nächsten Heft.