In (Vorwahl-)Zeiten, wo via Asocial Media besonders viel Desinformation gestreut wird, ist es ein geradezu essenzielles Unterfangen, den Diskurs zu suchen und Utopien zu denken. Leider ist die Politik zu einem ständig nur die nächste Wahl im Visier habenden Paralleluniversum verkommen. Viele Bürger*innen frustriert, dass der Mangel an visionären Entwürfen maximal ein Fortwursteln zulässt, wo Miss- und Umstände mehr schlecht als recht verwaltet werden. Überreichtum mit noch dazu fatalem ökologischem Fußabdruck wird vom VP-geführten Finanzministerium geduldet und kaum bis nicht besteuert. Immer mehr Menschen geraten in soziale Not und werden dreist des Sozialmissbrauchs bezichtigt, ebenso Asylsuchende. Im Nährboden für faschistoide Tendenzen gibt es zwar auch Persönlichkeiten aus der Politik, die dies erkennen, doch sind diese nicht an der Macht, um gegensteuern zu können. Insofern bleibt es Wissenschaftler*innen und Künstler*innen vorbehalten, Auswege aus den selbstverschuldeten Krisen aufzuzeigen.
Ein Zitat der renommierten Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb aus der Ö1-Sendung »Gedanken« verdeutlicht die Malaise: »Das Zentrieren, das Beste für sich selbst rauszuholen, führt eben nicht dazu, dass es für alle am besten ist, weil es so etwas gibt wie eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft, und vieles muss in der Gemeinschaft gelöst werden.« Die Optimierung von Profit unter dem Diktat des neoliberalen Leistungsprinzips ist ein Irrweg, der eine Transformation und Frieden nicht zulässt. Deshalb muss die Machtfrage gestellt werden, bevor es zu spät ist. Das sollte auch für wirtschaftsliberale Institutionen und Medien gelten. Statt Besitzstandswahrung geht es darum, dass sozial niemand benachteiligt wird. Es ist ein Menschenrecht, seine Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Dass sich die Menschheit damit begnügen sollte, was die Natur nachhaltig hergibt, soll ein Debattenthema sein. Die Politik muss handeln und die Herrschaft der Finanzmärkte, der Techkonzerne und der Medieneliten, die mit ihren Blödmaschinen Gegenaufklärung betreiben, radikal deregulieren!
»Freie Republik Wien«
Es bedarf einer Gegenerzählung, die grundsätzlich erklärt, dass Rechtsruck und Rechtsextremismus Ursachen in der fehlenden Gleichberechtigung haben, in der auseinanderklaffenden Einkommensschere, in der Ohnmacht diskriminierter oder ignorierter Mitmenschen. Weg mit dem Shareholder Value, weg mit der neoliberalen Agenda der EU! Hin zum langfristigen Gemeinwohldenken und -handeln. Dazu setzen die Wiener Festwochen 2024, unter der erstmaligen Intendanz von Milo Rau, endlich Zeichen. Eine markante Intervention, die nach der essenziellen » Rede an Europa« von Omri Boehm am Wiener Judenplatz Debattenräume öffnet, ist die »Freie Republik Wien«, die am 17. Mai ab 21:20 Uhr auf dem Rathausplatz ausgerufen wird. Fuzzman & The Singin’ Rebels, die mit dem Chor der »Freie Republik« sowie Mitgliedern des »Rats der Republik« die neue Hymne »Steht auf, steht auf« intonieren werden, sowie Pussy Riot, Bipolar Feminin, Voodoo Jürgens, Gustav, Paula Carolina und Monobrother eröffnen musikalisch, während die Autorinnen Elfriede Jelinek und Sybille Berg, die Ökologin Carola Rackete, die Kunstfigur KDM Königin der Macht, Rapper Kid Pex, Regisseur Kirill Serebrennikov und Autor Kim de l’Horizon mit aufwühlenden Statements intervenieren werden.
Milo Raus Clou ist schon in der Eröffnung erkennbar: Die Kulturstadt Wien soll zu einer Stätte einer Zweiten Moderne werden, die Debattenkultur pflegt in Opposition zu den gefährlichen Hassreden von Populisten, die allzu oft zu tatsächlicher Gewalt führen. Dazu konstituiert sich der »Rat der Republik«, dem 69 Wiener Bürger*innen und 31 prominente (inter)nationale Mitglieder angehören, von Annie Ernaux über Elfriede Jelinek und Ruth Beckermann bis Oksana Lyniv, Yannis Varoufakis und Jean Ziegler. Das sogenannte »Haus der Republik« entsteht in Kooperation mit dem Aktivismus Camp der Klima Biennale Wien und before it gets better… des Volkskundemuseums Wien. Dazu werden unzählige Aktivist*innen vom Lobau Forum bis zur MST Landlosenbewegung eingeladen. Wochenweise gibt es Themenschwerpunkte, in den Hearings »Demokratie versus Steuerung« über Entscheidungsprozesse und nötige Reglementierung, »Solidarität versus Cancel-Culture« gegen den Bekenntnisdruck oder »Nachhaltigkeit versus Kooperation«, wo sich der Norden umweltschützend gibt, trotz Extraktion nötiger Ressourcen im globalen Süden.
»Die Wiener Prozesse«/»Club der Republik«
Der im Volkskundemuseum tagende »Rat der Republik« stellt Geschworene für die »Wiener Prozesse«. Diese hat Milo Rau nach inszenierten Schauprozessen in Moskau und Zürich und dem »Kongo Tribunal« extra für Wien konzipiert. Vor den Gerichtsverhandlungen werden zum jeweiligen Auftakt im Museumsquartier je zwei Personen des öffentlichen Lebens in der »Box der Wahrheit« an einen Lügendetektor angeschlossen. Das öffentliche Verhör vollzieht die Schauspielerin Bibiana Beglau. Anschließend, ab 19:30 Uhr, fungieren im Odeon Justizprozesse als Bühnenereignisse, die eine Einübung in demokratische Praktiken offerieren. Am ersten Wochenende, vom 24. bis 26. Mai, wird »Die korrupte Republik« verhandelt, eine Woche später »Anschläge auf die Demokratie« und eine Woche darauf die »Heuchelei der Gutmeinenden«. Eine Urteilsverkündung erfolgt jeden Sonntagabend, das Strafausmaß wird am 23. Juni ab 13:00 Uhr im »Haus der Republik« publik gemacht.
Wo die Köpfe ausrauchen lassen? Die Wochenendreihe »Club der Republik« in der Roten Bar und im Weißen Salon des Volkstheaters sorgt für ein tolles Begleitprogramm. Die donnerstägliche Performance-Serie in der Roten Bar wird von KDM Königin der Macht verantwortet. Am 30. Mai ist dort die ihre Besteuerung einfordernde Millionenerbin Marlene Engelhorn zu Gast. Freitags gibt es Konzerte, etwa Femme DMC am 8. und Euroteuro am 15. Juni. Samstags steigen Partys unter der Ägide des Teams der Choreografie-Ikone Florentina Holzinger. Seba Kayan, die im Herbst bei einem Salon-skug-Gastspiel beim Unsafe+Sounds Festival ein das westliche Musikverständnis herausforderndes DJ-Set darbot, gibt eines ihrer »Carpet Concerts«. Dabei fusioniert die Wiener Elektronikmusikerin am 25. Mai ab 22:00 Uhr Techno mit kurdischer Volksmusik, mit der fantastischen Sängerin Sakina Teyna am Mikrofon. Grandiose Musik als Vor- und Nachhut eines kleinen Rojava-Schwerpunktes. Am 23. Mai erörtert Remziye Mihemedin in einem Seminar den Gesellschaftsvertrag der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Ebendort, im Volkskundemuseum, wird am 26. Mai die Frauenrechts- und Umweltaktivistin Rehan Temo einen Workshop über die Revolution der Frauen in Rojava, die ein konföderales feminines System aufgebaut haben, halten.
Feministisches Schauspiel
Kurz sei an dieser Stelle noch auf gnadenlos gutes feministisches Theater verwiesen. Mateja Meded, die mit ihrer Familie dreijährig nach Deutschland flüchten musste, ist am Berliner Gorki Theater eine Größe. In ihrem tragikomischen Monolog »Fotzenschleimpower gegen den Raubtierkaputtalismus« erzählt sie als Alien inmitten einer Runde von Oberfeministinnen, deren Feminismus darin besteht, keine Putzfrau zu haben, von kaputten Wirbelsäulen, vom illegalen Putzen fremder Häuser mit ihrer Mutter, Oma und Tante. Schmerzvolle, prekäre Biografien sind das, doch setzt die Flucht in einen »Yugofuturismus« Energien frei, die ein herkömmliches Denken über erzwungene Emigration und Aufnahme in der neuen »Heimat« zersetzt. Zu erleben im Kosmos Theater, vom 13. bis 15. Juni um 20:00 Uhr sowie am 16. Juni um 18:00 Uhr und 21:00 Uhr.
Florentina Holzinger und Komponistin Johanna Doderer feiern hingegen auf Basis von »Sancta Susanna« (1922) von Paul Hindemith in ihrer Opern-Performance eine schwarze Messe, in der sexbesessene Nonnen die Hauptrolle spielen und Holzinger herself als Klöppel eine zwei Tonnen schwer Glocke zum Klingen bringen wird: »Sancta« am 10. und 11. Juni sowie von 13. bis 15. Juni jeweils um 19:30 Uhr in der Halle E im Museumsquartier. Eine Reisende, um Weltfrieden zu propagieren war die Künstlerin Pippa Bacca die in der Türkei von einem LKW-Fahrer vergewaltigt und ermordet wurde. Carolina Bianchi, brasilianische in Amsterdam lebende Theatermacherin, Autorin und Performerin, thematisiert in »A Noiva e o Boa Noite Cinderela« vom 18. bis 20. Mai die furchtbaren Auswirkungen von K.O.-Tabletten. Die Bühne im Museumsquartier, Halle G, gerät final zum Friedhof ermordeter Frauen.
»Akademie der Zweiten Moderne«
Zurück zur »Freien Republik Wien«, die in einem Extraprogramm eine globale Komponistinnen-Plattform unter dem Signet »Akademie Zweite Moderne« aus der Taufe hebt. Zwar ist ein Komponierverbot, wie anno dazumal von Gustav Mahler in den Ehevertrag mit Alma Mahler hineinreklamiert, längst Geschichte, doch Frauen sind auch im Genre Neue Musik nach wie vor unterrepräsentiert. Der künstlerische und philosophische Aufbruch der Ersten Wiener Moderne war einseitig. Die Kreise um Schönberg, Freud oder Klimt waren männlich, elitär und dem Eurozentrismus verhaftet. Jana Beckmann, seit 2023 im Leitungskollektiv Dramaturgie/Musik und Musiktheater der Wiener Festwochen, meint zu Recht, dass ein Festival wie die Wiener Festwochen sich von sich aus verpflichtet fühlen sollte, den Anteil der Frauen zu erhöhen. Aus einem Open Call mit 160 Bewerberinnen aus 48 Ländern wurden zehn Tonsetzerinnen ausgewählt. Über einen Zeitraum von fünf Jahren ergibt das eine Anzahl von 50, stellvertretend für jede der vergessenen und ungehörten 50 Kompositionsschülerinnen Arnold Schönbergs – allein in Wien.
Nuria Schönberg-Nono, die Tochter Arnold Schönbergs, übernimmt die Patronanz, womit die Aufmerksamkeit für die aus allen Regionen des Globus kommenden Komponistinnen erhöht wird. Somit werden auch Klangsprachen, die gesellschaftspolitische Entwicklungen spiegeln und seltener zu hören sind, am 8. und 9. Juni im Radiokulturhaus Wien zu hören sein. Beispielsweise Feliz Anne Reyes Macahis, die den philippinischen epischen Gesang zeitgenössisch auslegt, oder Monthati Masebe, nicht-binäre*r Sound Artist/Composer und Heiler*in aus Südafrika, der*die indigene mit elektronischer und klassischer Musik liiert. Symptomatisch fürs weltoffene feministische Komponieren steht Bushra El-Turk. Die Projekte der britisch-libanesischen Künstlerin vereinen westliche und östliche Musiktraditionen und verwischen die Grenzen zwischen traditioneller Aufführungspraxis, Improvisation und zeitgenössischen Sounds. Die »Akademie Zweite Moderne« ist eine bedeutende Maßnahme, um verfestigten patriarchale Systemen feministische Power entgegenzusetzen. Hauptzielsetzung: Nachhaltigkeit, mit nochmaligen Aufführungen, sowie Erhöhung des Werkanteils von Frauen in Theatern, Opern, Konzerthäusern und Festivals, denn der Frauenanteil der weltweit von Orchestern aufgeführten Werke erreicht heutzutage nur beschämende 7,7 %.
Epilog: Die Crux sind Hindernisse nicht nur vom rechten Spektrum der Gesellschaft, sondern das bequeme Festhalten an der imperialen Lebensweise. Hilfloserweise frönen auch die Sozialpartner zu sehr dem Kapitalismus-Paradigma des endlosen Wachstums. Dermaßen eignet sich die Performance von Kris Verdonk, bei der am 22. Juni am Weg vom Volkskundemuseum zum Heldenplatz ein Verbrennungsmotor vernichtet werden wird, nicht wirklich als symbolischer Lösungsansatz. »Exhaust/ajax« soll ein Fanal sein, doch mit Elektroautos wird der Verkehr nicht weniger. Dennoch muss der profitgierige Ressourcenverbrauch auf dem Rücken indigener Bevölkerungen eingeschränkt werden. Klimagerechtigkeit und Solidarität müssen für alle gelten.