In den 1960er bis in die 1980er Jahre hat Kundera schöne Romane geschrieben. Sie sind allerdings eher was für Männer, weil Frauen darin keine Rolle spielen. In seinem berühmtesten Werk »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« trifft ein Arzt mit viel Innenleben und unbewältigbarem Nietzsche-Interesse auf eine junge Fotojournalistin. Die Gedanken der Frau sind immer etwas kindlich und einfältig. Sie bemüht sich, damit ihr Alter nicht wegläuft und will ihn mit Familientugenden halten. Wenigstens darf sie dem gemeinsamen Hund den Namen geben. Der Mann hingegen ist so übergroß wie sein appetitus sexualis und er darf existentiell leiden. Allerdings an einem Problem, das nur Philosophierende interessiert. Für Menschen die gerne Rätsel lösen: Als Gott die Welt schuf, kann er dies nicht einmalig und zufällig getan haben, weil das ziemlich ungöttlich wäre, er tat es vielmehr unendliche Male und damit notwendig vollendet. Für Gott (wer immer dies sein mag) super, weil Genuss des unendlichen Reichtums an Schöpfungen für endliche Wesen (Menschen) weniger, weil verdammt zu ewiger Wiederkehr des Gleichen. Bei einem Spaziergang im Kanton Graubünden wurde Nietzsche dieser Sachverhalt klar, er bog gemeinsam mit einem gewissen Zarathustra in einen Waldweg ab, aus dem beide nie zurückkehrten. Diese Denknuss konnte Kundera in seinen Romanen selbstverständlich auch nicht lösen, aus seinem eigenen Lebensweg zog er hingegen vorbildliche politische Schlüsse.
Der gekidnappte Kontinent
Kundera erwachte früh zum glühenden Kommunisten. Die Heilsversprechen einer kommunistischen Gesellschaft begeisterten ihn wie Strawinsky, Picasso oder der Surrealismus. Profiteur dieser Begeisterung war der Genosse Stalin, dem er ein schönes Gedicht auf den Leib schneiderte. Parallelen zwischen Poesie und Realität sind hier allerdings bestenfalls zufällig. Bald dämmerte Kundera, dass sowjetische Parteiendiktatur und Staatskapitalismus weiter von kommunistischen Idealen entfernt waren als Konrad Adenauer und er wurde patzig. Man schmiss ihn aus der Partei (in die er aber wieder eintrat). Und bis zum Prager Frühling lebten Kundera und KP in unfriedlicher Ehe. In den 1970er reichte es Kundera dann und er machte rüber nach Paris und wollte bis kurz vor Lebensende nichts mehr mit Tschechien zu tun haben. Der Immobilienspekulant, mutmaßliche Kriminelle (siehe Pandora Papers) und in der Freizeit zeitweilige tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš bewegte den greisen Kundera zu zarten versöhnlichen Gesten gegenüber Tschechien, was der Vollständigkeit halber erwähnt sein soll.
In seinem Essay von 1983, »Un Occident kidnappé«, beschreibt Kundera die von ihm mit durchlebte Tragödie Mitteleuropas eindrucksvoll und bis heute gültig. Europa hat die Staaten Mitteleuropas, die bis circa 1990 unter russischer Knute standen, verraten, weil es deren kulturelle Eigenständigkeit nicht erkannte. Sie verschwanden, als seien sie nie dagewesen. Mit der Sicht ist Kundera nicht allein. Ein Dumpfdenker wie Ernst Jünger wollte ernsthaft eine Linie durch Europa ziehen, wo die Geschichte »im Osten« endet, weil hinter dieser Demarkationslinie keine Geschichte mehr stattfinde. Angeblich fallen die Entscheidungen alle im Westen. Zu dieser Dummheit wäre Europa verurteilt, weil es laut Kundera die eigene kulturelle Basis vergessen hat. An dieser Stelle jetzt unbedingt weiterlesen, denn Kundera bog nicht in den öden Weg kulturalistischer Standortbestimmung ein, den heute rechte Denker*innen Ursula von der Leyen ins Poesiealbum kritzeln wollen.
Weder West noch Ost
Milan Kundera hielt jede Art von Heimat, Verwurzelung, kultureller Identität, er sprach von »d’être enraciné«, für eine Illusion. Sie zu betonen ist nichts anderes als mehr oder minder fantasievoller Provinzialismus. Eine Beschreibung der Realität wird dies nie, sondern eine in Sehnsüchtelei verhüllte Verblendung. Kundera optiere für etwas, das Goethe »Weltliteratur« nannte. Eine Literatur, die lokale Besonderheiten kennt und würdigt, sie aber eingebettet sieht in einen mächtigen, grenzenlosen Strom der Geschichte, der von allen Kulturen zugleich getragen wird. In unentwirrbarer Weise beeinflussen sich jene wechselseitig. Nur gemeinsam können sie menschliche Würde erhalten.
Kommt jemand daher und will dies alles ausradieren, weil jetzt der »Sowjetmensch« hermuss oder jemand glaubt, die Generationen von Slawen und Moslems hätten eh nie was Gescheites zu Papier gebracht, sondern ihr Leben damit verbracht, sich Zar und Sultan zu unterwerfen, dann ist höchste Vorsicht geboten. Denn überall ist Geist und Schläue zu finden. Ein Europa, das nicht untergehen will, sollte dies würdigen. Es sollte die beinahe unendliche (»unendlich« macht crazy, siehe oben) Fülle seiner geistigen und moralischen Hervorbringungen wahren und anerkennen. Es gibt nichts »Uneuropäisches«, weil alles Teil einer erweiterten und verbesserten, europäischen Gemeinschaft werden kann. »Mein eigenes Ideal von Europa ist die maximale Vielfalt in minimalem Raum«, schrieb Kundera. In gewisser Weise konnte er so gewisse kommunistische Ideale seiner Jugend bis ins griesgrämige Alter retten, auch wenn er dies so nicht gerne gelesen hätte. Kundera ließ sich nicht, enttäuscht vom »Osten«, für antikommunistische Propaganda vom CIA bezahlen, wie etwa Manès Sperber. Er blieb einem höchst eigenständigen Blick auf Europa treu, der die übliche Dichotomie zwischen West und Ost oder Kapitalismus und Kommunismus in kurios eigenwilliger Weise außer Kraft gesetzt hat.