»Scheiß-Musik« vermeinte Leonard Bernstein noch in den 1970er Jahren während der Proben mit Wiener Musikern bei einer Mahler-Einspielung als gezischelte Bemerkung vernommen zu haben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellen die Autoren Gerhard Scheit und Wilhelm Svoboda fest: »Die Art und Weise, wie Mahlers Musik heute abgewehrt wird, zeigt immer auch, wie viel von ihr doch durchdringen konnte.« 2002 demonstrierten sie mit ihrem Buch »Feindbild Gustav Mahler«, dass sich hinter der bis heute nicht unproblematischen Rezeption von Mahlers Werk in Üsterreich immer schon antisemitische Beweggründe verbargen. Die »Abwehr der Moderne« spiegle eine Grundkonstellation des vergangenen Jahrhunderts, die Üsterreichs Geschichts- und Kulturverständnis bis in die Gegenwart überschattet. In »Treffpunkt der Moderne. Gustav Mahler, Theodor W. Adorno, Wiener Traditionen« wird das Phänomen aus der Perspektive Adornos beleuchtet, aber auch in Gesprächen mit der Wissenschaftlerin und Mahler-Biographin Herta Blaukopf (deren Andenken das Buch gewidmet ist), dem Dirigenten Michael Gielen und der Komponistin Olga Neuwirth. ?ber die Moderne ist gerade im Zuge der Reizfigur Mahler viel geschrieben worden. Der Hauptgrund dafür mag in dem Umstand liegen, den der Dirigent Gielen auf die Frage schildert, warum er Mahler so oft dirigiere: »Weil er die Inhalte des 20. Jahrhunderts mit der Sprache des 19. übermittelt.« Während sich Schönberg einer »Renaissance« verschließt, man sich zwischen Ablehnung und Akzeptanz entscheiden muss, bietet Mahlers tonaler Kommentar Zugang zu den Fragestellungen seiner Zeit. Den Versuchen der Nachkriegszeit, ihn zu einem kommerziell verwertbaren Jugendstil-Ornament umzudeuten, widersprach 1960 bereits Adorno in seiner Mahler-Monographie »Eine musikalische Physiognomie«, die Hans Wollschläger als den persönlichsten unter Adornos Texten bezeichnete.
In Scheit und Svobodas Konturierung des Nachkriegsösterreichs offenbart sich Erschreckendes. So hat ein langjähriger Ordinarius der Wiener musikwissenschaftlichen Fakultät seinen Studenten noch in den 1950er und 1960er Jahren zumindest privatim erklärt, dass sie bei ihm »über einen Juden nicht dissertieren« könnten. Mahler wurde denn auch vor allem als Dirigent und Operndirektor behandelt, als Komponist dagegen vernachlässigt, antisemitisch-motivierte, persönliche Angriffe als »Entrüstungsstürme« gegen künstlerische Erneuerung verallgemeinert. Man kann darüber diskutieren, ob der Ansatz der Autoren, die Problematik der Mahler-Rezeption fast ausschließlich über das Politische zu definieren, in allen Punkten stimmen mag, ihr Beitrag zu einer tiefer gehenden Beschäftigung mit dem Phänomen ist gerade im Mahler-Jahr 2010 als wesentlich zu betrachten, bevor die einstige Verfemung der Patina (nur scheinbar) erlösender Verklärung weicht. Der Blick in den Spiegel historischer Rezeptionsgeschichte ist notwendig, Stellungnahmen bleiben gefordert. In den freundlicheren Fällen klingt es bei Adorno (bereits 1925) so: In Wien offenbare sich die »Krise der Bürgerlichkeit«, die »marxistisch zur Probe gedacht (Marxismus ist eine Antwort auf Wien!), außerhalb der Dialektik liegt.«
Gerhard Scheit, Wilhelm Svoboda: »Treffpunkt der Moderne. Gustav Mahler, Theodor W. Adorno, Wiener Traditionen«, Wien: Sonderzahl 2010, 252 Seiten, EUR 19,90