Mattilda Bernstein Sycamore © Slowking4/Wikimedia Commons, CC BY-NC 3.0
Mattilda Bernstein Sycamore © Slowking4/Wikimedia Commons, CC BY-NC 3.0

(No) Future?!

Im Sammelband »Between Certain Death and a Possible Future: Queer Writing on Growing up with the AIDS Crisis« geht Mattilda Bernstein Sycamore dem Aufwachsen unter und den Transformationen von HIV/AIDS nach.

Vier Jahrzehnte nach den ersten medialen Berichten zu dem Symptombild, was später als HIV und AIDS bezeichnet werden sollte, hat sich die Welt nach langem (medizinischen) Stillstand deutlich verändert. Auf politischer und medizinischer Ebene wurden einige Fortschritte erreicht: Mittels Präexpositionsprophylaxe (PrEP) ist es nunmehr möglich, eine HIV-Infektion proaktiv durch Medikamenteneinnahme zu verhindern. Beginnend mit der Entwicklung von Kombinationstherapien Mitte der 1990er-Jahre ist die HIV-Behandlung deutlich effektiver geworden und viele HIV-Positive können ein nahezu gesundheitlich uneingeschränktes Leben führen. Befindet sich eine HIV-positive Person unter einer bestimmten Viruslast, kann das Virus ebenfalls nicht weitergegeben werden. Erfolge, die jedoch nur für diejenigen gelten, die Informationen und Zugang zu diesen Medikamenten besitzen. Sozial-ökonomische Ausschlüsse führen dazu, dass AIDS weiterhin Todesopfer fordert und dessen Ende vielerorts noch lange nicht in Sicht ist.

Blickverschiebung

Während die Zeit der 1980er-Jahre für die mediale Beschäftigung mit HIV und AIDS zentral ist, erweitert der von Mattilda Bernstein Sycamore herausgegebene Sammelband »Between Certain Death and a Possible Future: Queer Writing on Growing up with the AIDS Crisis« die Perspektive durch Erzählungen aus nachfolgenden Generationen deutlich. Der gewählte zeitliche Horizont und die integrierte Multiperspektivität, die sich über 36 Reflexionen erstreckt, sind insofern erkenntnisfördernd, als dass sie es ermöglichen, jene medial dominanten Narrative aufzubrechen und dabei neben der persönlichen Ebene auch gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen und übergeordnete Entwicklungslinien in Form von Kontinuitäten und Brüchen in den Blick zu nehmen. Dies umfasst Berichte über die eigene Erkrankung ebenso wie HIV/AIDS in verschiedenen familiären Konstellationen, Gefangenschaft, Sexarbeit, die Verwobenheit mit Rassismus, bis hin zu Perspektiven jenseits der urbanen Zentren und des globalen Südens, wo wie im Falle Südafrikas AIDS ein heterosexuell geprägtes Phänomen ist. Themen wie Verantwortungsübernahme, Verhandeln über den Tod, Fremd- und Selbstbestimmung werden ebenso angesprochen wie die Frage des eigenen Überlebens und wie mit der damit einhergehenden empfundenen Sinnlosigkeit und Verlusterfahrungen umgegangen werden kann.

Adoleszenz unter HIV-/AIDS-Vorzeichen

Innerhalb der Textsammlung liegt ein Fokus auf der eigenen Subjektwerdung vor dem Hintergrund von AIDS und was es bedeutet, wenn die eigene Identität und (imaginierte) Zukunft eng mit einer tödlichen Krankheit und somit Angst, Stigmatisierung und Selbsthass verwoben ist. Mediale Repräsentationen und damit Bilder von sich selbst, jenseits des Virus, sind im Mainstream zum damaligen Zeitpunkt des Aufwachsens kaum vorhanden, sodass die eigene Identifikation mit der Krankheit das Selbstbild stark prägt. Der medial sehr präsente Tod des Schauspieles Rock Hudson ist vielfach ein zentraler biographischer Bezugspunkt in Hinblick auf die damalige öffentliche Repräsentation von AIDS. Gleichzeitig entsteht eine Art AIDS-bezogenes kulturelles Gedächtnis samt Verletzungen und Traumata, das von einer Generation zur nächsten weitergegebenen wird und in seiner identitätsformenden Wirkung (un)bewusst bis in die Gegenwart nachwirkt. So schreibt sich die konstante Sorge vor einer möglichen Erkrankung in die (intime) Interaktion mit anderen in der Art und Weise, wie Sexualität ausgelebt und was sich aus Angst versagt wird, ein.

Ambivalenzen des medizinischen Fortschritts

Mit der Einführung neuer Medikamentenkombinationen Mitte der 1990er-Jahre änderte sich das Leben mit HIV für viele. Die Erkenntnis, dass eine wirksame HIV-Therapie die Weitergabe des Virus an andere verhindert, setzte sich Ende der 2000er-Jahre wissenschaftlich durch. Mit Einführung der PrEP ist ein effektiver Schutz vor einer Infektion möglich. Gleichzeitig gibt es einen gewissen Stillstand in der Art und Weise, wie über HIV und AIDS gesprochen wird. Abstraktes Wissen lässt sich oftmals nicht einfach in das eigene Handeln umsetzen und Ängste und Ressentiments verschwinden nicht unmittelbar durch das Aufrufen von Fakten. Trotz Nichtübertragbarkeit gilt vielen weiterhin das Kondom als einzige akzeptable Variante, wie Sexualität im Zuge von Safer Sex erlebt werden kann. Die Aufladung mit Scham und Schuldzuweisungen, die dieser Variante der Risikoverhandlung nicht folgen, besteht weiterhin fort.

Innerhalb des Sammelbands wird die Einführung von PrEP einerseits begrüßt andererseits auch kritisch auf ihre Folgen befragt. Für einige bedeutet die Nutzung eine Befreiung, da dadurch Ängste verschwanden, die mit der internalisierten omnipräsenten Angst vor HIV einhergingen. Gleichzeitig ermöglicht es (sexuelle) Möglichkeitsräume, die sich vorher versagt worden sind, wenngleich diese trotzdem nicht frei von Scham und moralischer Bewertung sind. Andere Perspektiven beurteilen PrEP deutlich kritischer, indem sie die Botschaft von Selbstverwirklichung und Empowerment in Abhängigkeit von einem medizinischen Produkt, das präventiv eingenommen werden muss, in Zweifel ziehen und Überlegungen dahingehend anstellen, was dies wiederum für die Entwicklung einer tatsächlichen Heilung von HIV bedeuten könnte. Eine rein medizinische Antwort hält keine umfassende Lösung für viele der nach wie vor relevanten Fragen bereit.

Probleme der Zugänglichkeit

Die Einführung der neuen Medikamente und Behandlungsmethoden führte gleichzeitig vielfach zu einer Dethematisierung in Form einer Privatisierung der Krankheit. Diese Blickverengung verkennt, dass weiterhin Menschen an den Folgen von AIDS sterben, was jedoch auf Desinteresse stößt, da es sich um Menschen handelt, die aufgrund von Armut marginalisiert sind und vielfach keine wirkungsmächtige politische Vertretung haben. Die Widersprüche der medizinischen Antwort auf HIV/AIDS sind aufs engste mit Verteilungsfragen verwoben. Viele, die stark von der Nutzung von PrEP profitieren könnten, haben keinen Zugang zu dieser Form des Risikoschutzes. Was wiederum Frage aufwirft, was dies für HIV-Prävention und AIDS-Aktivismus bedeutet und wie damit (zukünftig) umzugehen ist. Erkenntnisfördernd sind dabei die Texte, in denen Personen zu Wort kommen, die in verschiedenen HIV/AIDS-Programmen tätig sind und damit gelebte Realitäten jenseits der Fokussierung auf die Entwicklung von neuen Medikamenten und Behandlungserfolgen in den Blick nehmen. Sycamores Sammelband gelingt es darzustellen, dass die Themen HIV und AIDS kein auf die Vergangenheit beschränkter Sachverhalt, sondern auch im Hier und Jetzt weiterhin von Bedeutung sind und Aufmerksamkeit erfordern.

Mattilda Bernstein Sycamore: »Between Certain Death and a Possible Future: Queer Writing on Growing up with the AIDS Crisis«, Arsenal Pulp Press, 2021, 368 Seiten

Link: https://arsenalpulp.com/Books/B/Between-Certain-Death-and-a-Possible-Future

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