Innenansichten
Oftmals verstören oder verwundern Aussagen sowie Handlungen von Mitmenschen; man beginnt ausführlich über deren Taten zu reflektieren und stößt dabei des Üfteren auf die Erkenntnis, dass es schier unmöglich ist in einem Menschen wie durch ein Fenster eines Hauses hineinzusehen, um den Drang nach Nachvollziehbarkeit zu stillen. Mathias Illigen öffnet in seinem autobiographischen Roman »Ich oder Ich« der Leserschaft eine Türe seines Hauses, gewährt einen Blick hinter die Fassade und erzählt über die vielschichtige Innenarchitektonik seiner selbst. Allerdings handelt Illigens Lebensgeschichte nicht von großen Heldentaten, die garniert sind mit achterbahnartigen Schicksalsschlägen und Liebesdramen, sondern um die Geschichte eines Mannes, der aufgrund einer paranoiden Schizophrenie seinen Vater ermordet, und der nicht mehr Herr im eigenen Hause zu sein scheint.
Alles beginnt im Dissertantenseminar bei Peter Sloterdijk, indem der aufstrebende Philosophiestudent Mathias Illigen mit zunehmender Zeit Aussagen und Blicke seines Professors als Spiel und Verschwörung gegen sich zu interpretieren versucht. Plötzlich deutet Illigen jede kleinste alltägliche Banalität als Zeichen einer herannahenden Apokalypse und fügt diese in detailreicher und mühevoller Denkarbeit zu einer großen Verschwörungstheorie zusammen. Treu zur Seite steht ihm eine innere Stimme, die sich im Gegensatz zu Illigens Freundin und Geschwistern nicht von ihm abwendet, sondern ihn bis nach Rom begleitet um den Papst zu warnen. Gescheitert in Rom, verschlägt es den Erlöser Illigen schließlich nach Vorarlberg zu seinem Vater, den er als Drahtzieher dieser Verschwörung ansieht, und diesen erschlägt, um das große Unheil abzuwenden. Illigen wird darauf hin in mehrere Anstalten eingeliefert, in denen er einen intensiven Heilungsprozess erfährt, seine Tat erkennt und sogar eine besondere Person für seinen weiteren Lebensweg trifft. Nach knapp vier Jahren konnte der vorzeige Patient Illigen die psychiatrische Einrichtungen verlassen und lebt heute in Freiheit, in der er sich seiner Kunst und Doktorarbeit widmet.
In »Ich oder Ich« schildert Illigen sein Innerstes, das geraume Zeit ein großes – für den Leser oft schwer begreifliches – Wahngebilde erbaut und das erst durch die Therapie langsam abgetragen wird. Die Bausteine dieses Wahngebäudes werden durch den Mörtel der Spannung evoziert, den Illigen zwischen den Zeilen des Buches geschickt verteilt. Kritik an Realem ist problematisch, so sei der Mut Illigens zur Veröffentlichung seiner Geschichte und der Autor »Leben«, der die unglaublichsten Geschichten zu schreiben scheint, betont.
RAFFAELA ROGY
Zum Fall des Phallus
»Ein Vatermörder mitten im idyllischen Vorarlberg, das gefiel den sensationsgeilen Journalisten. Ich konnte sie verstehen. Mein Schicksal hatte alles, was eine gute Story brauchte. Dramatik, Brutalität, Mystik, Liebe und eine ordentliche Portion Action.« Der poetologische Kommentar zum ??reizvollen?? Charakter der eigenen Geschichte folgt einem kurzen Zwischenresümee mitten im Buch, kurz vor dem Schwurgerichtsprozess in Feldkirch, wo der ??Anti-Held?? Matthias Illigen offiziell für nicht zurechnungs-, somit also auch schuldunfähig erklärt werden wird.
Während die erste Hälfte dieses modernen (Psycho-)Entwicklungsromans ganz dem Wahn und seinen irrwitzigen Gebilden gewidmet ist – Schilderungen, welche zwar nicht so metaphysisch-raffiniert wie etwa die Schreberschen »Denkwürdigkeiten« (1902) geraten sind, aber allein schon dadurch erheblich an Schärfe gewinnen, dass der gegenwärtige Erzähler und Protagonist seinen zunehmend psychotischer werdenden Gedanken tatsächlich nachgehen konnte -, beschreibt die zweite Hälfte die Auseinandersetzung mit der eigenen Un-/Schuld sowie den Institutionen, die dabei behilflich sein sollten.
Erkenntnispolitisch betrachtet, liegt hier der größte Wert des Erfahrungsberichts: Normalisierung erscheint als eine Konfrontation mit Mächten, gegenüber denen man seine allzu menschliche Zweitrangigkeit in Worten und Taten eingestehen muss. Wie ein durchschnittlicher, vermeintlich freier Dienstnehmer, so muss auch Illigen ständig einsatzbereit sein und stets bieten, was gefragt ist, selbst wenn dies im letzteren Fall ??nur?? ein guter Eindruck ist. Die Professionellen kümmern sich allein um Gesellschafts- bzw. Arbeitsfähigkeit, die Wiederherstellung der Liebesfähigkeit wird nicht nur dem Betroffenen überlassen, sondern erschwert. Letztlich war es jedoch nicht nur die eigene Schlauheit oder bloß die Tatsache, dass Illigen auf die verabreichten Psychopharmaka besonders gut ??anspricht??: ohne eine gehörige Portion Liebes-Glück, wäre die Entlassung wohl nicht ganz so schnell erfolgt.
Von solchen Bedenklichkeiten muss man sich aber nicht die Lektüre erschweren lassen, denn die beiden Autoren (nein, kein ??Schizo-Scherz??: »Ich oder Ich« ist in Koproduktion mit dem findigen Fabian Burstein entstanden) pflegen keinen belehrenden, sondern einen sehr umgänglichen Ton – nur so schnell vergessen wie gelesen wird man dieses Buch sicher nicht haben.
IVO GURSCHLER
Mathias Illigen: »Ich oder Ich: Die wahre Geschichte eines Mannes, der seinen Vater getötet hat«, Wien: edition a 2011, 258 Seiten, EUR 19,95